von Eva-Maria Wagner
Ich spüre das letzte Wort, das du mit zittriger Hand in meine Haut ritzt – die Haut, die die Welten voneinander trennt. Anfangs tat es noch weh, mittlerweile habe ich mich so an den Schmerz gewöhnt, dass ich ihn kaum noch wahrnehme. Doch ich spüre das Wort. Ende. Es hallt in mir nach. Ich bin fertig, vollendet. Endlich. Nach so vielen Jahren bin ich geworden. Etwas geworden, das vielleicht einmal bewundert wird.
Und plötzlich prasselt der Schmerz auf mich ein, der sich über die letzten Seiten angestaut hat. Das Gewicht der Worte drückt auf meinen papiernen Körper und raubt mir den Atem. Ich bin fertig – das bedeutet, dass deine Hände auf meinen Seiten ruhen, die Spitze deiner Feder mich in Ruhe lässt. Meine Haut kann zum ersten Mal seit langem wieder durchatmen und fühlen – und wehtun.
Ich hatte viel Zeit, mich daran zu gewöhnen, an das Gewicht der Worte. Doch man unterschätzt oft, wie viel sie tatsächlich wiegen. Oft sind sie keine Vögel, die federleicht durch die Lüfte schweben – und wenn sie es sind, so legen sie viel zu oft Bruchlandungen hin. Deine Worte versagen viel zu oft, tun nicht das, was sie sollen. Du willst etwas sagen, doch sie trauen sich nicht, bleiben dir im Hals stecken – oder in der Feder. Worte, die nie das Licht der Welt erblicken. Es gibt Worte, die du nie in meine Haut ritzt – Ritzen, weil Schreiben weh tun muss, damit man von Kunst sprechen kann. Doch ich habe die Ahnung eines jeden Wortes gespürt, habe gespürt, wie deine Hand zittriger wurde, zögerlicher, wie sie schließlich verkrampfte, als sie sich beobachtet wähnte.
Ich bin nicht aus dem Nichts entstanden. Einst war ich ein Gedanke – zuerst war ich einer, dann war ich unendlich viele. Der große Schöpfergeist Du trommelte mich und all meine anderen Ichs zusammen und formte uns zu einer Masse. Wir wurden körperhaft – ich bekam einen Körper. Ich wurde ich. Zunächst unkoordiniert, irgendwann geordnet – du hast mich zu Papier gebracht, mal ängstlich und zögerlich, dann feurig und voller Leidenschaft. Deine Hände liebkosten meine leeren Seiten, als du sie eine nach der anderen fülltest.
Ich kann mich daran erinnern, wie es in deinem Kopf war, wie es seitenweise noch sein wird. In tausend Wortfetzen schwebte ich umher und konnte mich selbst noch nicht erkennen. Du wusstest auch oft nicht, wer oder was genau ich war oder wer oder was ich einmal werden sollte. Nächtelang lagst du wach im Bett und konntest nicht in den Schlaf finden, da ich dich so quälte. Ich ließ dir keine andere Wahl. Du musstest dich mit mir auseinandersetzen. Oft hast du vor Verzweiflung geschrien. Nein, du schreist nie wirklich, davor hast du Angst – denn du willst nicht gehört werden. Sogar vor deiner Existenz fürchtest du dich – bloß nicht existieren, und wenn es sich nicht vermeiden lässt, dann bloß nicht zu laut. Wir wollen ein Geheimnis bleiben, denn Geheimnisse können nicht beurteilt werden.
Das letzte Wort tut immer weh. Das muss es, sonst wäre jede Geschichte, die vor dem Ende steht, bedeutungslos.
© Eva-Maria Wagner 2022-11-19