von Emily Drechsler
Und es begab sich zu einer Zeit, dass Bauern ihre Gäule zur Ernte an eiserne Pflüge spannten und magere Mägde ihre Gänse mit Einbruch der Nacht zusammentrieben und ihre Könige und Fürsten den eigenen Fettmassen erlagen, eine Institution das Reichtum ganzer Staaten besaß und zwei junge Knaben, Brust an Brust beieinander schlafend ihren Lagern entrissen, getreten, geschlagen, verschrien und die Spucke der eigenen Väter auf den Häuptern mit Dolchen und Kötern und Speeren den eigenen Heimen vertrieben wurden. Und es begab sich zu einer Zeit, dass zwei Knaben barfuß in weißen Nachthemden rannten. Und während sie rannten und die Hitze der Fackeln des Kollektivs hinter ihnen im Nacken fühlten und sich der Geruch der Spucke der Köter, getragen vom Sturm der Nacht in ihre Nasen rammte, sahen sie zueinander und lachten über die Irrungen der anderen. Die Meute hinter ihnen nahm ab. Das Gesindel war zu schwach für jenen langen Sprint, die Weiber erkannten die Zwecklosigkeit hinter ihrem Hass, den Kindern schmerzten die Haxen und die Heuchler unter ihnen überkam das Gewissen. Und so rannten sie fort. Und als man sie letztlich wie ihr Vieh im Spätherbst durch Heiden und Acker und Wälder getrieben hatte und ihr Dorf einzig noch als Fleck zwischen Himmel und Erde auszumachen war, entschloss sich selbst der letzte Landmann, seine Schritte einzustellen, mit Steinen auf die rennenden Knaben zu werfen, ihnen ein letztes Mal das Wort „Gesindel!“ nachzurufen und triumphal kehrt zu machen. Und die Knaben lachten und rannten fort. Und als die ersten Fetzen der Sonne den Heiden lange Schatten ihrer erliegenden Bergketten zeichneten, wälzten sie sich auf den Weiden, die Reste ihrer zuvor noch weißen Nachtkleider nun braun und löchrig, die langen Locken ihrer Haare nass vom Lauf und die Fersen mit Blasen- und Knöchel mit Wunden bedeckt. Sie tranken aus den Bächen und aßen von den Büschen in den Wäldern oder den Bäumen auf den Heiden. Und wenn sie rasten wollten, schliefen sie auf den Gräsern über den Heiden, den Moosen in den Wäldern oder im Heu fremder Scheunen. Sie lachten und schrien die Berge an, wenn sie es wollten und rannten dem Mond zuwider, dem Tag in die Arme und schwammen in Flüssen und kletterten dem Himmel entgegen und rammten sich Narben in die Knie und wussten, sie liebten. Und wenn sich das Firmament über die Sonne legte, vollendeten sie ihre Werke und küssten sich und rasteten sie und sahen, dass es gut war. Und es begab sich, dass ein junger Literat, von Goethe sein Name, Stift und Papiere unter den Armen, die Wege der liebenden Knaben an einem Frühlingsmorgen kreuzte und diese ihn einen Gedanken fassen ließen. Und so schrieb er, von ihrem Antlitz geleitet: „Der Mensch ist Mensch, und das bisschen Verstand, das einer haben mag, kommt wenig oder nicht in Anschlag, wenn Leidenschaft wütet.“ Sie wussten, dass diese Tage kommen würden. Ihnen wurde die Aufrichtigkeit in jede Faser ihrer Knochen geprügelt, doch ging es um Liebe, sollten sie heucheln.
© Emily Drechsler 2022-08-27