von Raven E. Dietzel
Von gelben Spinden gesäumte Flure gaben mir den Eindruck, Teil einer Leinwandrealität geworden zu sein. Große, systemkritische Graffiti boten dem Zweifel in meinem jungen Gemüt Heimat und die unter Schüler- und Lehrerhand alt gewordenen Ranken an den Balustraden rings um die Unterrichts- und Versammlungsflächen verliehen dem industrieartigen Rohbau den Charme eines Dornröschenschlosses. Wochen des Widerwillens gegen das Hamsterrad der Regelschule, Sportunterricht und Karriereplanung unter dem Blick eines kurzgeschorenen Reserveleutnants, der alle Register seiner neuerworbenen Leitungsposition erprobte, schließlich Aufgeben, Schulflucht, und am Tag des Ausschieds eine rebellische gehaltene, wenn auch mit falschem Kant gewürzte Stehgreifrede, hatten mich hierhergeführt. An dem Ort, von dem ich fort war, hatte ich nichts geändert. Dort lief alles nach altgewohnten Regeln ab. Doch für mich galten die nicht mehr. Nun war ich ja hier – war neu – und fand mich nicht zurecht!
Ich war den rotgeziegelten Hauptflur zahllose Male von einem Ende zum anderen abgelaufen, Treppenaufgängen nach oben gefolgt, doch wieder umgedreht. Mir tönte kein Gong Verspätung, doch über dem bahnsteiguhrengroßen Zifferblatt neben dem Haupteingang hatte ein langer, schwarzer Stab die Markierung zur vollen Stunde längst überschritten. Die Hoffnung, mit der ich am Morgen diese seltsame Parrallelwelt betreten hatte, wandelte sich nun in Verzweiflung. Zwischen schweißnassen Fingern knüllte ich den Ausdruck, den ein großer, dünner, leise sprechender Mann mit Lockenzopf und runder Brille mir zusammen mit der Chance gegeben hatte, in den nächsten zwei Wochen zu beweisen, dass ich einer Aufnahme mitten im Schuljahr würdig war.
Vor zehn Minuten noch hatte ich an mich und diese Chance geglaubt. Da war ich Teil des Stroms der Raumwechsler gewesen. Während es aber alle anderen fortgetrieben hatte, war ich zurückgeblieben wie ein schwerer Kieselstein im Uferschlick bei Ebbe.
Doch ganz allein war ich nicht. Unter einer Treppe, die Rücken an gelbe Metalltüren gelehnt, saßen schwarzgekleidete Gestalten, hatte keinen Unterricht oder ging nicht dorthin. Ozeanwasser in den Augenwinkeln und Gischt auf den Wangen blieb ich nun bei ihnen stehen. „Ich suche…“, brachte ich atemlos hervor und las die Raumnummer von meinem Papier ab. „Könnt ihr mir helfen?“
Aus der Mitte der Gruppe erhob sich jemand, blaue Augen begegneten mir aus einem bleichen Gesicht. Ein paar Worte, ein Bei-der-Hand-nehmen, dann folgte ich deinem wehenden, roten Haarschopf wie einem Irrlicht, das es gut mit mir meinte, zwei Treppen hinauf, eine Galerie entlang … Schon stand ich vor dem Raum mit der unauffindbaren Nummer, und du warst wieder verschwunden.
Hätten wir nie wieder etwas miteinander zu tun gehabt, wärst du in meiner Erinnerung zum freundlichen, warmen Schatten geworden, der mich an jenem Ort willkommen hieß. Doch kam es anders.
© Raven E. Dietzel 2022-12-13