von Andrea Wessely
Das Band in seinen Fingern sieht aus, als würde es gleich reißen.
Es ist unmöglich, ihm in die Augen zu sehen. Ich kann nur auf das dunkelbraune Lederband um sein Handgelenk achten. Wieder und wieder dreht es sich um seinen Arm, mit meinen Gedanken um die Wette. Das Licht im Klassenraum ist auf einmal zu grell. Meine Freundinnen stehen in Hörweite, seine Freunde tun so, als würden sie uns nicht beachten. Da sie zwölf sind, wie wir anderen auch, überzeugen sie uns damit nur begrenzt.
Es ist kurz vor acht. Etwas in mir wünscht sich, dass der Englisch-Unterricht heute früher beginnt, wir die Seite mit den irregulären Verben heute früher aufschlagen, ich vor die Klasse gerufen werde, sie alle zu konjugieren, nur um diesem Moment zu entfliehen. Doch mein Wunsch bleibt mir verwehrt.
Als Alex heute die Stiegen von den Spinden hochkam, klopfte mir mein Herz bis zum Hals. Ich wurde rot, als er mich sah. (Er auch.) Kurz standen wir so voreinander, unsere Freunde kichernd hinter uns. Jetzt sieht er mich an und ich will flüchten. Weit weg. Überall anders sein als hier. Gefangen in einer Situation, auf die ich das ganze Schuljahr gehofft habe.
‚Wollen wir zusammen sein?‘ Der Satz klingt heute so banal in meinen Ohren. Ich weiß nicht mehr genau, wie es dazu gekommen ist, doch ich weiß, dass ich überzeugt war, erwachsen geworden zu sein, als ich die Nachricht las.
Der Tag danach liegt noch deutlich vor mir. Der Tag nach der Nachricht. Der Tag, an dem ich fliehen wollte. Ich stehe wieder ganz hinten im Klassenzimmer, er gegenüber. Ich will wegrennen. Nach Hause laufen, dem Erwachsen werden davon.
»Wollen wir es einfach lassen?« Meine Stimme hört sich zu hoch an. Ich bemerke einen Knoten in seinem Armband.
»Ja, okay.« Mein Blick wandert vom Leder nun doch zu seinen Augen. Ich kann seinen Ausdruck nicht ganz deuten, aber er sieht enttäuscht aus.
Monatelange Nachrichten. Wir kennen uns eigentlich nicht. Obwohl ich mittlerweile so viel über ihn weiß. Wir kennen die Versionen voneinander, die zu Hause ins Telefon tippen: Alles, das sich nicht trauen einander zu sagen. Ich kenne seine Schwester, seine Katzen, obwohl ich sie nie getroffen habe. Ich habe sie getroffen, als ich bei meiner Familienfeier die Augen nicht vom Bildschirm lösen konnte. Ich habe sie getroffen, als ich zu Hause in meinem Zimmer saß und als ich bei meiner Oma zu Mittag aß.
Ich schaue auf die Uhr: 8:00 und unsere Zeit ist um.
Das Armband reißt.
Die Lehrerin betritt die Klasse.
© Andrea Wessely 2024-07-31