von Alina Böhler
Ich habe Valentina mehrmals gefragt, ob sie das fĂŒr eine gute Idee hĂ€lt. Bitte versteht mich nicht falsch, ich sage meinen Freunden nicht einfach so, dass ich ihre Entscheidungen schlecht finde. Aber Valentina hat mich gefragt. Das macht sie nĂ€mlich immer. Sie kann keine Entscheidungen treffen. âSoll ich den Job annehmen? Soll ich meine Haare fĂ€rben? Soll ich den Brownie bestellen?â Die Fragen werden immer absurder. Ich liebe Valentina. Ich liebe sie am meisten von all meinen Freundinnen. Aber dass sie so unfĂ€hig ist, eigene Entscheidungen zu treffen, ist ein Problem. Letzte Woche saĂen wir in unsrem LieblingscafĂ© in unserem Heimatort. Es gibt nur zwei CafĂ©s hier, also keine groĂe Auswahl â gut fĂŒr Valentina. Sie sieht mich an mit ihren strahlenden blauen Augen, und bevor sie mich fragt, wie es mir geht, oder was ich so mache, fĂ€ngt sie an ĂŒber sich selbst zu sprechen. Sie spricht ĂŒber ihre neue Arbeit oder ĂŒber ihren Freund. Sie erzĂ€hlt kaum von groĂen Problemen. Denn sie hat keine. Es sind Teenager-Probleme, die Valentina beschĂ€ftigen. Aber wenn es fĂŒr sie ein groĂes Problem darstellt, dann ist das in Ordnung so. Probleme kann man nicht vergleichen. Wenn ich selbst keine Sorgen habe, liebe ich es, ĂŒber ihre unwichtigen kleinen Problemchen zu sprechen. Es lenkt mich von meinen Problemen ab, die fĂŒr mich riesig sind und fĂŒr andere ebenfalls als unwichtig abgetan werden. Wir reden ĂŒber ihre ZĂ€hne oder ihren neuen Nebenjob, als ob es das wichtigste der Welt wĂ€re. Aber wenn ich viel zu tun habe, kann ich das nicht. So wie heute. Ich werfe Valentina einen genervten Blick zu und sie hört sofort auf zu Sprechen. Ich erzĂ€hle ihr, dass meine BrĂŒder und ich einen Ort fĂŒr die Beerdigung unseres Vaters suchen. Man kann in Valentinas Gesicht sehen, wie schlecht sie sich fĂŒhlt, dass sie gerade 20 Minuten ĂŒber ihre Haare gesprochen hat. Valentina hat MitgefĂŒhl â jedenfalls meistens â sie hilft, wann immer sie kann mit genau den richtigen Worten. Wenn sie sich dann entschieden hat, was die richtigen Worte sind. Doch leider ist sie so gefangen in der Angst, Entscheidungen zu treffen, dass sie vor den Problemen andere Menschen die Augen verschlieĂt. Entschuldige, dass ich es so sage, aber vor richtigen Problemen. (Ja, ich habe es getan – ich habe Probleme verglichen). Jahrelang versuche ich Valentina klarzumachen, dass ihre kleinen Entscheidungen nicht wichtig sind. Meistens sind sogar groĂe Entscheidungen nicht wichtig. Viele unserer Entscheidungen können rĂŒckgĂ€ngig gemacht werden. Sie wird in ihrem Leben nie wieder ĂŒber die Frisur nachdenken, die sie mit 25 hatte. Und falls die zukĂŒnftige Valentina sich Gedanken ĂŒber die Frisur macht, die sie vor 20-30 Jahren hatte â get a life! Ein weiteres Mal habe ich Valentina geraten, einfach etwas zu tun. „Entscheide dich einfach. Und wenn du dich falsch entschieden hast, entscheide dich nochmal. Aber werde nicht wie die Menschen die nichts machen, weil sie Angst davor haben, sich zu entscheiden.“ Ich redete auf sie ein, wie schon so oft zuvor. â…denn keine deiner Entscheidungen spielt sich zwischen Leben und Tod ab, Vali.â Ich war stolz auf die Formulierungen meines langen Monologs und schaute Valentina erwartungsvoll an. In meinen Gedanken sprang sie auf, warf ihre Tasse dramatisch auf den Boden und schrie âJa, das werde ich machen. Und alles nur wegen dir!â Doch auf diesen Ausbruch der GefĂŒhle mĂŒsste ich wohl noch etwas warten. Valentina nimmt einen Schluck ihres Cappuccinos und nickt geistesabwesend.
© Alina Böhler 2023-08-22