von Knox
Atem, der auf einer glatten Oberfläche kondensiert. Ich schaue näher hin. Grobe Poren, haariges Gesicht und müde Augen. Wie konnte es so weit kommen? Spieglein, Spieglein an der Wand, tu mir den Gefallen und lüg mich einfach an. Doch er tut es nie. Erbarmungslos hält er mir am nächsten Morgen wieder meine Fratze vor. Erbarmungslos sage ich, dabei bekomme ich genau das, was ich auch die Tage zuvor serviert bekam, ein Ebenbild meiner selbst. Ein sehr irritierendes Ritual, schließlich hatte man mir von klein auf erklärt, dass das Äußere gar nicht wichtig sei. Vielmehr die inneren Werte, mein Charakter, meine Persönlichkeit und diese undefinierbare und unsichtbare Masse, die wir Seele nennen. Was irritierend ist, da die Menschen es lieben zu kategorisieren. Es macht alles einfacher. Je komplexer der Sachverhalt, desto mannigfaltiger die eingebauten Schubladen, die man an ihm finden kann.
Aber Halt! Seele, Charakter, Persönlichkeit. Nichts davon lässt sich vermessen, geschweige denn sich kategorisieren. Trotzdem ist das einer der ersten Maßstäbe, die ich kennengelernt habe, um andere Menschen beurteilen zu können und er hält sich bis heute. Aber warum, wenn es doch so viel gibt, dass wir erforscht und vermessen haben, warum, von allen Dingen, die uns auf dieser Erde begegnen können, nehmen wir ausgerechnet die, die wir am wenigsten definieren können, die gar auf purem Glauben beruhen, um unser Gegenüber zu erfassen?
Und es ist wichtig, das zu tun. So wichtig, dass dieser Prozess in unserem Gehirn sozusagen automatisch abläuft. Jeder von uns kennt das. Man sieht ein neues Gesicht und innerhalb von weniger als einer Sekunde, bekommt man ein entsprechendes Bauchgefühl dazu mitgeliefert. Obwohl es zutiefst unserer Prämisse widerstrebt, etwas oder jemanden nur aufgrund seines Auftretens zu beurteilen, funktioniert es genau so.
Mit diesem Gedanken im Kopf verankert, schaue ich wieder in den Spiegel. Das Ergebnis ist verwunderlich wie immer. Es passiert gar nichts. Kein Gefühl des Unbehagens, dass unter meine Haut krabbelt und kein Gefühl von Empathie. Ich sehe einer fleischigen Puppe in die Augen, die zufälligerweise genau das macht, was ich ihr befehle. Stattdessen beurteile ich als gäbe es kein Morgen mehr. Obendrein bin ich auch noch viel strenger als bei anderen Gesichtern. Aber wozu? Sind sie schon mal morgens auf der Arbeit erschienen und jemand hat sie gefragt: „Und was sagt dein Spiegelbild heute?“ Wohl kaum. Eher noch betrachtet man Kollegen, die entweder viel hübscher oder aber viel hässlicher sind als man selbst. Allerdings bleibt das Ergebnis dieses ganzen Schauspiels genau da, wo es entstanden ist, in meinem Kopf.
Und so stehe ich wieder vor meinem Spiegelbild und versuche mit aller mir zur Verfügung stehenden Gewalt, diesem Wesen in seinen Kopf zu gucken, ohne mir auch nur einmal meiner eigenen Lächerlichkeit bewusst zu werden. Weil was und wo soll ich sonst sein? Haben sie schon mal jemanden kennengelernt, der in einem Spiegel wohnt? Und ich meine damit keinen Dysphemismus für die Beschreibung von Narzissten. Der allmorgendliche Blick ist, wenn man so will, ein religiöser Akt. Eine Bestätigung für mich und alle anderen, dass ich tatsächlich existiere, sagt zumindest der Spiegel.
© Knox 2025-01-15