von Alexandra Dittl
484 Tage benötigte ich, um endlich die Wahrheit zu erkennen. Rosenduft liegt in der Luft. Wir sitzen auf der Veranda meines Gartens. Krümelnd knuspern wir amerikanische Chocolate Chip Cookies vor uns hin, während die wärmende Mai-Sonne die kunterbunten Rosenbeete beleuchtet. Mir gefallen besonders die einzelnen, roten Blüten. Dir die vollen, orangeroten Büsche. Wir diskutieren viel und oft. Über die intellektuelle Verrohung der Studierendenschaft. Über die moralische Grundeinstellung der Menschen. Über die fehlende Diskussionskultur einer „politically woke Generation“. Über alles. Auch über unsere subjektive Einstellung und Empfindung gegenüber Rosengewächsen. Meistens einigen wir uns auf einen gemeinsamen Nenner. Als Mitglieder gesellschaftlicher Randgruppen teilen wir viele Ansichten. Doch manchmal müssen wir anerkennen, unterschiedlicher Meinung zu sein.
Pastellrosa Kirschblüten verfangen sich in deinem Haar, verlangen meine vollkommene Aufmerksamkeit. Natürlich tolerierst du meine Berührungen nur zähneknirschend, aber ich muss dich von den hellen Blüten befreien, die der leichte Wind so gerne freizügig in der Welt verteilt. Und während ich ein Blütenblatt nach dem anderen aus deinem Haar löse, bemerke ich den leichten, goldenen Schimmer in ihrer sonst so durchdringenden Schwärze. Du sprichst einfach weiter – über die Geschichte Taiwans oder Indiens oder der alten Filme, die ich dank dir alle gesehen habe. Der Inhalt entschwindet mir, verliert sich in den dunklen Flecken deiner blauen Augen, die ich zuvor nie bemerkt habe. Niemand vermag es, deinen Blick festzuhalten – außer mir. Wieder und wieder erhalte ich einen Einblick, den du allen anderen verwehrst.
Wärme steigt in mir auf, die ich nicht mit der Sonne verbinden kann. Etwas prickelt tief in meinem Bauch, als erhielte ich den Applaus hunderter fremder Menschen nach einem Konzert. Das Herz klopft im Takt eines unerkannten Schlagzeugs. Jeder Schlag nimmt mir ein bisschen mehr meines Atems. Mein Kopf fühlt sich leicht an – so leicht – wie vor dem Singen eines komplizierten Musikstückes. Einzig und allein durch den Blick in das schüchterne Blau deiner Augen, das du so gern vor der Welt verbirgst.
Als der Kuckuck in der Ferne ruft, öffne ich endlich meine Seele für ein Konzept, dessen Wahrheit ich so häufig in Frage gestellt habe. Mir wird klar, dass es eine weitere Diskussion gibt, die ich mich nicht traue zu führen. Aus Angst, mich nicht mit dir zu einigen, unterschiedlicher Meinung zu sein.
Dein Lachen treibt mir den Schweiß auf die Stirn. Und den Pfeil tiefer ins Herz. Deine Schulter lehnt sich warm an meine. Ich spüre Funken. Und doch erlaube ich mir nicht, zu erkennen. Eine Biene wandert von den Rosen zu den weißen Lilien.
© Alexandra Dittl 2022-08-07