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Elena Mendel

von Elena Mendel

Story

Dem Tanzmeister flossen ein paar Tränen die Wange herab. Ich blieb still, wollte seine Andacht nicht stören. „Haben Sie schon einmal einen Menschen verloren? Ich selbst hatte bis zu diesem Tage schon einige Verwandte, nah und fern, verloren, doch dies war der Tag, an dem ich zum allerersten Mal den Tod erlebte. Im Schwindel, mit einem Pfeifen im Ohr, stand ich da, vermochte nicht zu sprechen, nicht zu weinen, nicht zu schreien. Ich stand an ihrem Bette, hielt, küsste ihre Hand, sah mein Leben dahinsterben, vermochte nichts Anderes zu tun, zu denken.

Ich habe nie wieder eine so quälende Reise unternommen. Die Heimreise aus diesem kleinen Dorf in meine Heimat zog sich wie eine nie endend wollende Qual. Schwindelig saß ich da, starrte aus dem Fenster, konnte kaum atmen in dem Wissen, sie bei mir, aber nie wieder in meinen Armen zu halten. Wie ich es bis nach Hause geschafft habe, weiß ich bis heute nicht.

Und so kam ich an in der Heimat und konnte nichts Anderes tun, als ihrem Ehemann ihre Leiche zu übergeben. Meine Faust fiel wie ein Stein, wie ein mechanischer Hebel einige Male gegen seine Haustür. Ich wartete. Er öffnete, im ersten Moment verwundert über mein Erscheinen. Ich denke, man muss in meinem Blick die Nachricht bereits gesehen haben, denn er verstand schnell, noch bevor ich ihm stotternd die Nachricht überbrachte, dass seine Frau und sein ungeborenes Kind nicht mehr unter uns waren. Auf einen Schlag nahm ich diesem Mann alles. Sein Leben, seine Liebe, seine Frau, seine Familie. So sehr hatte ich sie auf eine Weise geliebt, doch dieser Mann, ihr Ehemann, dieser Mann war ihr Leben. Er war derjenige gewesen, den sie geliebt hatte. Und ich begriff mit einem Mal noch mehr von der Anziehung, die zwischen uns geherrscht hatte, denn obwohl sie ihre gesamte Seele in den Tanz gelegt hatte, trotzdem war sie nie ganz mein, nicht ihr Körper, nicht ihr Herz, nur ihre Seele, nur ihre Passion, nie aber ihre Liebe. Ihre Liebe und all das, all das, was ich so sehr begehrt hatte, all das gehörte ihm, ihm. Und das war es wofür ich diesen Mann gehasst, ja gehasst, verachtet hatte. Nie, nie habe ich sie besessen, nie hat sie sich mir geschenkt, niemals so, so wie ihm. Nun, ihm ihren Tod mitzuteilen, der Bote zu sein, der ihm diese Nachricht überbrachte, dafür hasste ich mich selbst, dafür hasste, hasste ich mich, dafür hasste ich mich noch mehr, als dafür, dass ich sie so sehr begehrt hatte, obwohl ich gewusst, immer gewusst hatte, dass ich das niemals hätte tun dürfen.

Nach der Ankunft in meiner Heimat hatte ich mich in meine Räumlichkeiten zurückgezogen und seitdem mein Bett nicht mehr verlassen. Ohne meiner Seele von Haushälterin wäre ich wohl kläglich verhungert, doch die gute Frau kümmerte sich so rührend um mich, versorgte mich in meinem selbst errichteten Verlies wie eine Mutter ihr Kind. Ich erinnere mich an kaum etwas aus diesen Tagen, ich lag wohl nur zusammengerollt da, wie ein Säugling, starrte ins Leere.“

© Elena Mendel 2023-11-15

Genres
Romane & Erzählungen