von Natascha Scholl
Die 10-Cent-Münze lag in meiner geschlossenen Hand. Ich spürte ihr Gewicht, die raue Oberfläche und die Wärme, die sich auf das Metall übertrug. Vor allem aber lag sie in der verschlossenen Hand, weil ich sie nicht ansehen wollte, weil sie anzusehen bedeutete, dass ich eine Entscheidung getroffen hatte. Als ich Aaron kennenlernte, fühlte ich mich gläsern, er sah durch mich hindurch und obwohl es mir Angst machte, zog es mich auch an. Er sah nicht nur mein Stirnrunzeln, wenn jemand ‚das Einzigste‘ benutzte, sondern spürte instinktiv, wann mein Schweigen bedeutete, dass ich meine Ruhe brauchte und wann es bedeutete, dass ich reden wollte, aber nicht wusste, wo anfangen.
„Du brütest“, sagte er immer und meinte damit „Ich sehe dich.“ Dann eines Tages: „1 Cent für deine Gedanken“. Ich lachte und streckte die Hand aus, damit er mir gab, was er bereit war für meine Gedanken zu zahlen. Hilflos wühlte er in seinem Portemonnaie und drückte mir irgendwann 10 Cent in die Hand. Ich redete, er hörte zu und es tat gut. Seitdem war „10 Cent für deine Gedanken“ etabliert und mit der Zeit um einige Regeln erweitert: Ein Geschenk zu bekommen, war immer mit der Aufforderung verbunden, eines zurückzugeben. Die 10-Cent-Münze zu verschenken, im Austausch für die Gedanken der jeweils anderen Person war zu einer praktikablen und manchmal schwierigen Hintertür geworden. Aaron gab mir die Münze , als er wissen wollte, wie ich zu seinem Jobangebot in einem anderen Land stand. Ich ihm, als ich wissen wollte, ob ich mitkommen dürfte. Eine weitere Regel war Ehrlichkeit. Die Münze öffnete einen Raum, in dem wir ehrlich sein mussten, nicht dass die Konsequenzen zum Fürchten waren, aber der Münztausch würde an Bedeutung verlieren, wenn wir ihn nicht ernst nahmen und dazu gehörte, dass wir ehrlich darüber sprachen, was wir dachten.
Aaron hatte wie immer den richtigen Riecher und sah durch mich hindurch. Etwas stimmte nicht und das fühlte er. Heute morgen gab er mir die Münze, kurz bevor er zur Arbeit fuhr. „10 Cent für deine Gedanken“, sagte er und küsste mich auf die Wange, länger als sonst. Als ob er wüsste, dass wir uns für lange Zeit nicht wiedersehen würden. Seitdem saß ich in einem Café und grübelte mit der Münze in meiner zur Faust geballten Hand. Vor mir stand eine leere Tasse Cappuccino, daneben, auf dem Holztisch mit der abgeplatzten Lackierung, lag eine leere Kekstüte.
Ich beschloss, die Münze entscheiden zu lassen. Warum nicht? Warum nicht diese Münze? Sie begleitete unsere Beziehung von Anfang an und war durch unsere Hände gewandert, als wir unsere wichtigsten Entscheidungen, Sorgen und Nöte teilten. Kopf bedeutete, ich würde die Beziehung beenden und Zahl, sie weiterführen. Vor dem Café-Fenster fuhr eine Straßenbahn entlang und ich schnipste die Münze mit dem Daumen in die Luft. Warum nicht?, dachte ich, während ich der goldenen Scheibe zusah, wie sie sich in der Luft drehte.
© Natascha Scholl 2022-04-13