10. Der markierte Baum

Ronja Hornik

von Ronja Hornik

Story

Annika wusste, wie man lebt.

Sie wusste es sogar so gut, dass sie sich keine Gedanken darum machen musste. Jeden Morgen schaffte sie es aufzustehen, ohne nochmal auf Snooze zu drücken. Mittags hielt sie die eine Stunde Mittagspause genau ein und abends schaffte sie es ihr Handy zwei Stunden bevor sie schlafen ging wegzulegen.

Ja, Annika hatte es raus, wie man sich an die Regeln hält.

Das Einzige, was sie nicht wusste und nicht konnte, war von diesen Regeln abzuweichen. Hätte sie mehr freien Willen gehabt, so hätte sie sicher darüber nachgedacht, dass sie keinen hat. Alles in ihrem Leben war strukturiert, funktionierte tadellos und führte sie weiter auf ihre Ziele zu. Sogar ihre Probleme waren stets so konzipiert, dass sie daraus lernte.

Annika wusste nicht, dass sie beobachtet wurde.

Jeder ihrer Schritte wurde verfolgt, jeder ihrer Atemzüge gierig aufgesogen, jeder ihrer Blicke nachgeahmt. Der einzige Fehler, den sie je gemacht hatte, sollte ihr Einziger bleiben. Dabei war es nicht mal ihr Fehler.

Sie war damals nur zur falschen Zeit am falschen Ort. Sie stand neben der falschen Person, und war im falschen Moment nett.

Hätte sie an jenem Morgen auch nur einmal auf Snooze gedrückt, dann hätten sich die Wege der beiden nie gekreuzt. Aber nachdem sie ihm den Weg an der Bahnstation gewiesen hatte, liefen seine Gedanken Amok.

Selbst Jahre nachdem der Baum, in den er ihrer beiden Initialen geritzt hatte, schon so weit gewachsen war, dass es vom Boden nicht mehr zu erkennen war, fragten sich die Leute, was mit ihr passiert war.

Ohne eine Spur war sie verschwunden.

Erst Tage später, als die Waschbären anfingen sich über ihre Mülltonnen herzumachen, die sie sonst immer rechtzeitig rausgestellt hatte, fingen die Leute an, nach ihr zu suchen. Die Orte, an denen sie sich sonst aufhielt waren verlassen, der Zeitplan, den sie sonst einhielt, vergessen und ihr Beobachter war wieder in der Menge der Menschen verschwunden.

© Ronja Hornik 2022-08-11