von Davide Goldner
Anm.: Thelema ist die Liebe fĂĽr einen Beruf, fĂĽr ein Hobby, fĂĽr Ideale und Ideen. Diese Form der Liebe richtet sich nicht an eine Person, sondern an eine Sache, an eine Leidenschaft, an eine Vision.
Die Luft im winzigen Zimmer ist stickig. Das Licht einer alten Glühbirne beleuchtet die finstere und düstere Umgebung, macht sie aber nicht heller, sondern dunkler. Die mit der Zeit und der Feuchtigkeit zerbröckelten Gemäuer, sind von Zeitungsausschnitten und Postern verklebt. Ausrufe- und Fragezeichen und unterstrichene Sätze ergänzen die farbenprächtige und originelle Tapete dieses Raumes. Überall im Zimmer kursieren Fäden. Blaue, rote, gelbe, dicke und dünne Fäden führen von einer Mauer zur anderen und treffen sich als großes Knäuel über die schwache Glühbirne in der Mitte des Raumes. Ein vermoderter, abgenutzter Teppich und Zeitungsstapeln verdecken den unebenen Fußboden. Kartons von Hausaltsgeräten und Lebensmitteln liegen aufgetürmt an den Seiten eines großen Sofas. Dieser ist purpurrot gefärbt, voluminös und sehr ordentlich, passt jedoch nicht zum chaotischen Raum.
Plötzlich löst sich eine Gestalt von der Couch. Im flackernden Schein der Glühbirne, erkennt man auch weitere Figuren, die auf dem Sofa liegen. Ein altes Radio auf einem kleinen Tisch spuckt klassische Musik aus. Die Gestalt, die sich von der Gruppe losgelöst hatte, fragt plötzlich: „Was ist die Freiheit?“. Die Gestalt ist ein Jugendlicher, wie auch die anderen auf dem Sofa. “Gemeinschaft“, antwortet einer. “Typisch der Kommunist!”, platzt ein anderer. “Was sagen die dreckigen Kapitalisten hingegen?“, erwidert der Erste herausfordernd. “Freiheit, heißt Individualismus, Besitz undGeld. Eine freie Marktwirtschaft, bei der jeder an jedem beliebigen Tag reich werden kann!“. „…oder pleite“, wirft ein Mädchen am Sofa gelehnt ein. Ein anderer: „Als Christ glaube ich, dass Freiheit heißt, einer Gemeinschaft zuzugehören, der man vertraut und durch sie gestützt wird“. Ein anderer Junge ruft aus: „Freiheit ist Knechtschaft“. „Freiheit kann es nur geben, wenn alle Geschlechter gleichberechtigt werden!“, ruft ein anderes Mädchen. Es folgen weitere lauthalsgeschriene Meinungen, dann wird es still im Raum.
Es sind Jugendliche, die denken alles und nichts zu sein. Jugendliche, die die Welt mit ihren Worten und Ideen verändern wollen, aber doch wissen, dass es nicht so leicht gehen wird. Niemand kennt sie und niemand kennt ihre Gruppe: die plurikratische Geschwisterschaft. Der Keller Georgs dient als Hauptquartier der Bande; es ist ihr Versteck und der Olymp der Ideen zugleich.
Der Junge, der die Frage gestellt hatte, schreitet nun zur Gruppe auf dem Sofa zu und sagt: „Das hier heißt Freiheit.“ Die Jungen und Mädchen murmeln zustimmend. Und einer nach dem anderen ruft: „Dieses schmutzige Loch!“, „Dieser rote Sofa im Dreck!“, „Diese von Idealen verpestete Luft!“, „Diese verrückte Gruppe von Utopiesaufern!“, „Diese Plurikratie!“
© Davide Goldner 2021-08-14