Der Walfang hat sich seit Herman Melvilles Moby Dick gravierend verändert: Er ist in den Sechzigerjahren nicht länger ein Ringen des einzelnen Mannes mit der Kreatur, bei dem auch er selbst ums Leben kommen kann, sondern ein technisierter Prozess, in dem kein Wal mehr die Chance hat, zu entkommen. Dass sich ein kleines Walfangboot auf Bouvet verirrt, ist also nicht nur aufgrund der abgeschiedenen Lage der Insel unwahrscheinlich.
Der modernisierte Walfang führt Anfang des 20. Jahrhunderts zu einem rasanten Artensterben. Ein Problembewusstsein keimt hingegen nur langsam. So wird 1935 der Eubalaena, auch genannt Retwal, als Erster unter Artenschutz gestellt. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs tritt ein Vertrag der Internationalen Walfangkommission in Kraft, der Obergrenzen für die einzelnen Arten vorsieht. Als die kommerzielle Jagd 1986 schließlich ganz verboten wird, sind die Bestände dennoch auf einem katastrophalen Stand. Was ist geschehen? [2]
Trotz der eingeführten Obergrenzen beginnt die UdSSR nach dem Krieg, ihren Walfang auszubauen. Die Sowjets lernen von den ausländischen Besatzungen, die sie anfangs einsetzen, und sind bald selbst in der Lage, in nie dagewesenem Ausmaß auf die Jagd zu gehen: Das Goldene Zeitalter des sowjetischen Walfangs bricht an. Anders als in Japan, wo Walfleisch Tradition hat, wird in der Sowjetunion eigentlich nur das gewonnene Öl verwendet. Doch die Planwirtschaft sieht vor, dass trotz fehlenden Bedarfs horrende Zahlen erfüllt werden. Wer die Quoten erreicht, darf sich über ein gutes Einkommen und öffentliches Ansehen freuen. Was hingegen an die Kommission gemeldet wird, entspricht in keiner Weise den Tatsachen.
Die Fangflotten sind in Begleitung von Wissenschaftlern unterwegs, die einerseits forschen, andererseits den groß angelegten Betrug durch ihre Publikationen decken. Einer von ihnen ist der Meeresbiologe Alfred Berzin. Er wird Zeuge des maschinellen Mordens auf hoher See: Ohne Maß und Ziel töten die sowjetischen Flotten alle Wale, die sie finden können. Auch Walkühe und ihre Kälber sowie verbotene Arten fallen ihnen zum Opfer, selbst wenn es genügend Tiere gibt, die legal gejagt werden könnten. Weiterverarbeitet wird nach Berzins Schätzung jeweils nur ein Drittel des Kadavers. Der Rest verwest ungenutzt im Meer.
Was Berzin sieht, belastet ihn. Wie andere seiner Kollegen versucht er, an die Sowjetspitze zu appellieren, jedoch ohne Erfolg. 1994 schreibt er kurz vor seinem Tod seine Memoiren, die mittlerweile in englischer Übersetzung vorliegen [3], auf Russisch jedoch bis heute unveröffentlicht sind. In ihnen bezeugt er mit scharfer Zunge und zahlreichen Bildern eines der größten Umweltverbrechen des 20. Jahrhunderts.
Durch Menschen wie Berzin kommt allmählich das Ausmaß der Gräueltaten ans Licht: 180 000 Wale sollen damals von der UdSSR getötet und nicht gemeldet worden sein, darunter an die 3000 Exemplare des geschützten Retwals. [2]
© Daniela Feichtinger 2021-05-18