von Ena Hentschel
„Sieh mal“, ruft Lory und lässt mich aufblicken. Sie deutet mit ihrem Finger auf das geöffnete Fenster, auf dessen Fensterbank eine schneeweiße Eule sitzt und neugierig hineinschaut. Die Blitze unter meiner Haut werden zu einem Knistern, das mich daran erinnert, wo ich hingehöre. Sie wissen, dass ich hier bin. Wie soll ich es ihnen erklären, wenn sie mich fragen? Mit schweren Beinen stehe ich auf und gehe zum Fenster hinüber. Ich öffne es ein Stück weiter, damit sie hineinkann, wenn sie wollen würde. „Isra“, sage ich vorsichtig und schaue in ihre wachen Augen, die immer zu wissen scheinen. „Du musst zurück. Sie suchen nach dir“, flüstert sie mit ihrer zauberhaften Stimme, die einen leuchtenden Schauer über meine Arme fahren lässt. Traurigkeit legt sich über mich, wie eine dunkle, schwere Wolke, die mich zu erdrücken versucht. Isra sieht hinüber zu Lory, die mit ebenso großen Augen zurückblickt. Ich senke den Kopf; weiß nicht weiter. Will nicht wieder gehen. Will sie nicht alleine lassen. Nicht, bevor ich sie nicht gerettet habe. „Du kennst die Eule?“, fragt Lory plötzlich und tritt ehrfürchtig neben mich. „Das ist Isra, meine Freundin“, hauche ich zurück, ohne meinen Blick von der schneeweißen Eule zu lösen, deren Schönheit Lory bezaubern muss. „Das ist aber eine seltsame Freundin“, lacht sie und streckt ihre Hand nach Isra aus, die sanft ihren Kopf gegen sie lehnt. Sie weiß es. Ich muss nicht erklären, weshalb ich hierhergekommen bin; sie weiß es immer.
Freundschaft muss nicht von außen schön aussehen, sie muss sich schön anfühlen, Lory.
„Du musst mitkommen“, wiederholt Isra die bittere Wahrheit, vor der ich mich zu verstecken versuche. „Aber du kannst noch nicht gehen, die Geschichte von dem jungen Mädchen ist noch nicht vorbei. Ich habe noch zwei Fragen“, sagt Lory beinahe enttäuscht zu Boden blickend. Mit traurigen Augen sehe ich erst sie an, dann Isra. Isra hat recht, ich kann nicht länger bleiben. Plötzlich schlägt sie lautlos mit ihren Flügeln, hebt von der Fensterbank ab und lässt einen Hauch des goldenen Staubs aus ihrem Gefieder zurück. „Ich werde dafür sorgen, dass du noch zwei Geschichten Zeit hast Lory“, hallt ihre Stimme hinter ihrem lautlosen Flug hinterher. „Noch zwei Geschichten“, sage ich hoffnungsvoll und sehe zu Lory, die ihr verwundert in den schwarzen Nachthimmel hinterherschaut. „Wirst du Ärger bekommen?“, fragt sie und nimmt meine Hand in ihre. Ich nicke. „Ja, vermutlich bekomme ich Ärger.“ „Und Isra? Wird sie Ärger bekommen?“ Wieder nicke ich. „Ja, vermutlich bekommt sie Ärger.“ Lory nickt nun ebenfalls, als hätte sie es verstanden. Und wenn ich länger darüber nachdenke, hat Isra ihr die letzte Frage beantwortet. „Weißt du Lory, das junge Mädchen denkt oft, dass sie alleine ist, dass sie alles alleine schaffen muss. Das kann sie auch; mit Sicherheit. Wie ich es dir schon einmal erklärt habe, bittet sie nicht gerne um Hilfe“, beginne ich zu erzählen. „Freunde helfen, ohne dass man danach fragen muss. Ist Isra deswegen deine Freundin? Weil sie dich versteht, ohne dass du viel sagen musst?“, fragt sie mich mit neugierigem Blick. Wieder nicke ich bloß. „Ja. In den Momenten, in denen es darauf ankommt, sind Freunde für einen da und man merkt, dass man eigentlich nie alleine war.“
Du bist nicht alleine Lory. Nie.
© Ena Hentschel 2025-02-02