Ghostwriter. Der Begriff fiel mir im Sommer 2024 wieder ein, als ich ein kleines Handbuch über das Schreiben und wie man ein Schriftsteller wird, gelesen habe und dann vergaß ich es erfolgreich. Einige Monate später, als ich auf Jobsuche war, meldete ich mich zufällig in einer Gruppe der Ghostwriter an. Nach der Anmeldung legte ich einige meiner geschriebenen Arbeiten vor, bestand die Qualitätsprüfung und wurde regelmäßig mit den potenziellen Aufträgen per E-Mail bombardiert. Die Nachfrage war riesig: Hunderte Studenten wollten ihre Haus-, Bachelor-, Master- und Doktorarbeiten einem Ghostwriter überlassen – vermutlich, um sich selbst wichtigeren Dingen zu widmen. Die Fristen waren meist äußerst knapp. Offensichtlich hatten diese Studenten nicht nur Probleme mit dem Schreiben wissenschaftlicher Arbeiten, sondern auch mit dem Zeitmanagement. Anfangs freute ich mich über die zahlreichen Anfragen. Doch die Höhe der Bezahlung wurde mir von den Betreibern der Plattform lange Zeit nicht mitgeteilt. Auf der Webseite, die den Service anbot, lag der Preis bei etwa 60 Euro pro Seite. Diese Summe fand ich ansprechend – 6.000 Euro für 100 Seiten wissenschaftlicher Arbeit. Dafür war ich bereit, im Schatten zu bleiben. Nach wenigen Tagen erhielt ich eine Anfrage für die Erstellung einer medizinischen Doktorarbeit mit 100 Seiten über die Krebsforschung mit Studiendaten. Rate mal, wie hoch die Bezahlung pro Seite war? Ganze sechzehn Euro! Eine medizinische Doktorarbeit hatte also einen Gesamtwert von nur eineinhalbtausend Euro. Als ich das sah, beendete ich meine Ghostwriter-Karriere sofort.
Im Jahr 2022 wurde ich unerwartet Übersetzerin. Zum ersten Mal nach mehreren Jahren in Deutschland waren meine Kenntnisse der ukrainischen Sprache gefragt. Sonst war Ukrainisch fast wie Latein – eine tote Sprache, die in meiner Umgebung kaum einer sprach. Nur unsere Familie und wenige Ausnahmen. Selbst in der Ukraine sprechen die Meisten Russisch. Die Gründe hierfür liegen in der russischen und sowjetischen Vergangenheit des Landes.
Mit dem Beginn des Krieges begann ich, ehrenamtlich als Dolmetscherin für die Stadt Köln zu arbeiten. Ich begleitete einige Kriegsflüchtlinge und organisierte Veranstaltungen. Eines Tages erhielt ich eine Anfrage zur Übersetzung von Videomaterial aus der Ukraine für einen kurzen Dokumentarfilm über Fußball in Zeiten des Krieges. Ich nahm diesen Auftrag mit großer Freude an. Über mehrere Wochen tauchte ich in die Welt der geflüchteten Fußballprofis der Ukraine ein. Ich hörte mir ihre Geschichten an – wie sie den Beginn des Krieges miterlebt hatten, wie sie die Lage einschätzten, was sie über die Ukraine dachten und wie sie ihr Training trotz allem fortsetzten. Wie sie weiterlebten. Wie sie sich unter katastrophalen Bedingungen neu orientierten und dennoch nicht aufgaben. Ich habe nicht nur ihre Interviews übersetzt – ich habe ihr Leben durch ihre Erzählungen vor meinen Augen gesehen, ihre Botschaften gehört und mich für kurze Augenblicke dem Land, in dem ich geboren wurde, so nah gefühlt wie nie zuvor. Vor lauter Aufregung vergaß ich beinahe, dass diese Übersetzung eigentlich ein Arbeitsauftrag war.
© Dr. Julia Tschirka 2025-02-28