10-Sekunden-Regel

Melly Schaffenrath

von Melly Schaffenrath

Story
italien

In Italien gibt´s die 10-Sekunden-Regel. Wusste ich bislang auch noch nicht. Aber gut, man lernt nie aus. Eine 17-jährige Schülerin wird sexuell belästigt. Der 66-jährige Hausmeister fasst dem Mädchen, als diese gerade die Treppen ihrer Schule hochsteigt, von hinten mit der Hand in die Hose. Unter die Unterhose. Auf den Po. Die Berührung dauert mehrere Sekunden. Als die Schülerin den Hausmeister entsetzt anschaut, meint dieser grinsend, „es sei ja nur ein Scherz“. Die Schülerin fand das weniger witzig, meldet den Vorfall der Schulleitung und dank mehrerer Zeugen kommt es zu einem Gerichtsprozess. Gut so. Gäbe es keine Zeugen, gäbe es keinen Prozess. Dann hätte man die Schülerin als hysterische Schlampe, die selbst schuld ist oder als Lügnerin, die nur Aufmerksamkeit will, abgestempelt. Aber mit Augenzeugen ist das halt irgendwie schwierig. Dem muss man dann doch nachgehen. Sehr lästig, so was. Man kann es nicht mal auf den Rock schieben, weil das Mädchen eine Hose anhatte. Zefix.

Jetzt könnte man denken: klare Sache – Strafe für den Hausmeister. Aber nein. Es kommt zu einem Freispruch. Laut Gericht liegt keine Straftat vor, da der Übergriff keine 10 Sekunden gedauert hat. Es hätte keine lüsternen Absichten seitens des Hausmeisters gegeben. Es war, laut Gericht, nur ein ungeschicktes Manöver. Ach so. Ist klar. Dann ist´s ja eigentlich quasi gar nicht passiert, wenns unter 10 Sekunden war. Der Aufschrei ist groß. Unter #10secondi solidarisieren sich in den sozialen Medien unzählige Menschen mit dem Mädchen. Videos, in denen sich Menschen – Männer und Frauen – selbst an intimen Stellen betatschen oder betatschen lassen. Anbei läuft ein Timer. 10 Sekunden lang. Es ist unglaublich, wie lange 10 Sekunden dauern, wenn man diese Videos sieht. Das Mädchen hat mein Mitgefühl. Wie furchtbar muss es sein, trotz Augenzeugen und trotz Geständnisses des Täters keine Gerechtigkeit zu erfahren? Ganz abgesehen davon, welche Folgen diese Tat für die junge Frau hat. Wie viele Jahre wird es dauern, bis sie sich nicht mehr unwohl fühlt oder Angst hat, wenn ein Mann hinter ihr die Straße entlang geht?

Da diese 10-Sekunden-Regel nun in Italien geboren ist, stell ich mir die Frage, ob diese nur bei sexualisierter Gewalt angewandt wird oder grundsätzlich bei allen Straftaten? Wenn man jemanden mit der Faust ins Gesicht schlägt, dauert es vermutlich weniger als 10 Sekunden, um dem Gegenüber die Nase zu brechen. Das ist dann keine Körperverletzung, sondern nur ein Spaß? Wenn man jemanden ein Messer in den Bauch rammt, dann ist das nur ein ungeschicktes Manöver? Weil das dauert ja auch weniger als 10 Sekunden? Oder ist das dann doch eine Straftat? Und wie sieht es bei sexuellen Übergriffen auf Kinder aus? Gibts eine Altersuntergrenze? Kinder bis 10 Jahre maximal 3 Sekunden, Kinder von 11 bis 14 Jahre maximal 5 Sekunden – oder so ähnlich? Oder bei Kindern gar nicht? Ich frag nur. Also, liebe Sexualstraftäter, bitte immer den Timer einstellen, wenn ihr einer Frau ungefragt in den Schritt fasst. Bitte unter 10 Sekunden bleiben, weil dann ist es eigentlich gar nicht passiert.

© Melly Schaffenrath 2023-08-07

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