Der Bildschirm des Handys war winzig im Vergleich zur Dunkelheit des Flixbusses, aber er reichte, um ihn zu verschlingen. „Bambi meets Godzilla“. Zwei Minuten, kaum Animation, fast eine Karikatur. Der Junge wusste nicht, ob er lachen oder weinen sollte. „Schau hin, gleich passiert es“, sagte Gabriel neben ihm, während seine Finger locker auf dem Oberschenkel des Jungen lagen, als wären sie zufällig dort gelandet. Auf dem Display trottete Bambi durch eine grüne Wiese, die Musik plätscherte in naiv-kindlicher Disney-Manier, bis Godzillas Fuß aus dem Nichts kam und das Reh zu einem flachen, leblosen Fleck zermalmte. Der Junge blinzelte. Es war, als hätte jemand ihm einen Spiegel hingehalten, der gleichzeitig verzerrte und klärte. „Dein Kumpel schickt dir ja interessante Videos.“ Gabriel machte Anstalten zu antworten, doch ein Klingeln – kurz und scharf wie ein Schnitt an der Fingerkuppe – unterbrach ihn, bevor er überhaupt begonnen hatte.
Sein Vater rief an. Er hob das Handy, fluchte leise, hielt es einen Moment ans Ohr, dann wieder weg. Für einen Atemzug war die Luft so dicht, dass sie zwischen ihnen zu stehen schien, und das Herz des Jungen stolperte, unregelmäßig wie eine Uhr, die seit Jahren nicht mehr richtig tickte. Flüchtig dachte er an seinen eigenen Vater – den Mann, bei dem er seit dem Tod seiner Mutter wohnte, dessen Stimme er kaum kannte, dessen Abwesenheit wie ein unsichtbarer Fuß auf seiner Brust lag: immer da, immer drückend, nie greifbar. „Ich hab’s ihnen noch nicht gesagt“, murmelte Gabriel, während er das Handy weglegte. „Dass ich BWL hinschmeiße. Mach ja jetzt ’ne Ausbildung zum Industriekaufmann und will nebenbei Praktika im Filmbusiness machen. So, wie mein Kumpel mir geraten hat, den wir jetzt besuchen.“ Sein Blick glitt durch den Bus, tastend, als suchte er nach einer Reaktion, einem Zeugen für diesen kleinen, rebellischen Akt. Der Junge spürte, wie er unbewusst zurückhielt, sich als einen solchen anzubieten.
„Er arbeitet an der Hochschule für Film und hat mir ein paar Einblicke gegeben, wie es läuft. Er muss es wissen.“ Der Junge fühlte, wie sein Herz gleichzeitig zusammensackte und sich ausdehnte – ein Körper im Konflikt zwischen Erschrecken und der verbotenen Lust, in dieser Nacht etwas zu entdecken, das gut und schlecht zugleich war. Godzilla und Bambi verschmolzen zu einem Rhythmus in ihm: zermalmt werden und selbst treten, Schutzlosigkeit und Macht, Nähe und Abwesenheit. Das Video hatte einen bleibenden Eindruck hinterlassen. „So geht die Welt unter. Nicht mit einem Knall, sondern mit ’nem Tritt“, scherzte Gabriel, nun wieder gefasst, und seine Finger lagen noch immer auf seinem Oberschenkel. „Findest du das traurig?“, fragte er und drückte die Hand des Jungen. Dieser zuckte die Schultern, immer noch an das Video und an die Väter denkend. „Eigentlich nicht.“ Allerdings hätte er nicht sagen können, warum. Während die Lichter der Autobahn an ihnen vorbeizogen, fragte er sich, ob Bambi vielleicht Glück gehabt hatte, so schnell zertreten worden zu sein.
© Stefan Lautenschläger 2025-08-28