Ein unkontrollierter Kaliumspiegel ist grundsätzlich gefährlich, unabhängig davon, ob er zu hoch ist und damit eine Hyperkaliämie oder zu niedrig, also eine Hypokaliämie. Beides, zu viel und zu wenig, führt neben Lähmungserscheinungen auch zu Herzrhythmusstörungen. Stefan musste für einen hohen Kaliumspiegel sorgen und spritzte Rosalie nach einem Beruhigungsmittel eine so hohe Dosis, dass die Herzrhythmusstörungen schnell einsetzten und es nicht lange dauerte, bis ihr Herz schließlich stillstand. Diese Störungen führten eindeutig zu Rosalies Tod.
Stefan verzichtete natürlich nicht auf eine eventuell lebensrettende Reanimation, war aber so zögerlich, dass er schließlich den Totenschein ausstellen musste, dann aber nach einigen Stunden, als der Kaliumspiegel erwartungsgemäß gesunken war, einen zweiten Notarzt hinzuzog, der alles noch einmal bestätigte.
Amelie trauerte und wie vereinbart, wollten beide eine angemessene Trauerzeit bis zur Beerdigung einhalten. Stefan besuchte Amelie in dieser Zeit schweren Herzens nicht und sah sie erst bei der Beerdigung wieder, wo sie auch in Trauerkleidung wunderschön aussah.
Auch Vincent, dem Stefan von Rosalies Tod erzählte, war entsetzt, hatte er doch auch an ihre Hyperchonderie geglaubt. Er war aber so fair, Stefan keine Vorwürfe zu machen, dass er vielleicht falsch gehandelt und diagnostiziert habe. Im Gegenteil, er lobte Stefan und bedauerte, dass es Stefan trotz aller Bemühungen nicht gelungen war, Rosalies durch lebensverlängernde Maßnahmen zu helfen.
Als Termin für ihr erneutes, nun offizielles Treffen vereinbarten Amelie und Stefan zwei Wochen nach der Beerdigung, ein Zeitraum, den beide für angemessen hielten.
…
Am Tag vor ihrem Treffen erbebte der Flur der Arztpraxis von einem unbändigen Lärm. Zuerst dachte Stefan, die Patienten würden sich beschweren, weil sie zu lange warten mussten. Doch der Jubel, die Glückwünsche, das laute Geschwätz und Gelächter ließen etwas anderes vermuten. Schließlich öffnete er die Tür und blickte neugierig in den Flur. Fast die gesamte Belegschaft stand dort und umringten Amelie, die inmitten der Menge stand, überglücklich strahlte und die vielen Glückwünsche entgegennahm. „Ja“, plapperte sie immer wieder, „endlich hat er mich gefragt“, jubelte sie laut, „er hat mich gefragt, ob ich seine Frau werden will, und eigentlich musste ich gar nicht lange überlegen – ja, endlich ja, wir werden heiraten!“.
Und dann stürmte sie strahlend und glücklich lächelnd den Flur entlang, an Stefan vorbei, ohne ihn auch nur eines Blickes zu würdigen, auf die Tür zu, aus der in diesem Moment Vincent ebenso fröhlich lächelnd heraustrat und sie bereits überglücklich mit weit ausgebreiteten Armen empfing.
„Es hat lange gedauert, sehr lange, mein Liebster, viel zu lange, aber nun sind alle Schwierigkeiten, die unser Glück hätten verhindern können, aus dem Weg geräumt, endlich hat sich für uns alles zum Guten gewendet“, flüsterte sie selig und sank ebenso erleichtert wie glücklich in Vincents Arme.
© Heinz-Dieter Brandt 2025-05-07