11. Der Nachbar

Sima B. Moussavian

von Sima B. Moussavian

Story

Fünf Jahre, drei Monate und 22 Tage. So lange habe ich neben Lina gewohnt. In einem Vorstadthaus an einem Bachlauf und in der Früh konnte ich von meiner Terrasse aus Reiher beim Jagen sehen. Jetzt nicht mehr. Ich bin umgezogen. Vor ein paar Wochen schon und mein Traumhaus am Rand der Stadt habe ich mit hohen Verlusten an jemanden verkauft. Nur wegen Lina. Nur weil sie sich ermorden lassen musste! Dass es so weit kommen würde, habe ich immer gewusst. Aber nicht, dass man mich der Tat verdächtigen würde.

Haben sie wirklich alle Blumen mitgebracht? Abschiedsgeschenke fĂĽr das Grab, das man erst gestern zwischen alten Mausoleen fĂĽr sie ausgehoben hat? Ich bin extra hergekommen, um ihnen bei der Arbeit zuzusehen, weil ich keine Ăśberraschungen mag. Es sieht nicht tief genug aus. Ob sie wohl sicher sind, dass ihr Sarg am Ende nicht aus der Erde ragt?

Vielleicht soll er das auch. Lina hätte es gefallen. Um alles in der Welt wollte sie auffallen – anderen beweisen, wie herausragend sie war. Ich kannte selten jemanden, der so anstrengend war. Manchmal hat sie die ganze Nacht lang vor einer leeren Leinwand im Garten gestanden, bis auf das Mondlicht alles ausgezogen, in einer Wanne voll Farbe gebadet und mit ihrem tropfenden Leib begann sie, ein Gemälde zu malen. Sie hat genau gewusst, dass ich sie von meinem Bett aus sehen kann und wäre es anders gewesen, hätte sie es gar nicht erst getan.

Ihretwegen habe ich oft die Polizei gerufen. Weil sie bis in die frĂĽhen Morgenstunden laut war, oder einer ihrer vielen Männer – teils stadtbekannte Kriminelle – mal wieder brĂĽllend vor ihrem Haus stand. Blumen habe ich keine fĂĽr sie mitgebracht. Wieso sollte ich auch? Sie hat mir immer bloĂź Ă„rger gemacht. Vor allem in den letzten Wochen.

Oft kennen sich Täter und Opfer seit Jahren, hat die Polizei gesagt. Wird man umgebracht, dann meist von jemandem, dem man vertraut und die HaustĂĽr öffnet, wenn er spät in der Nacht irgendetwas braucht. Am häufigsten ist es der Freund eines Freundes, ein Bekannter, vielleicht sogar Verwandter. Ein Arbeitskollege oder Nachbar – so wie ich.

Noch immer sehen mich die Menschen so an, als hätte ich es getan. Könnte es nicht jeder sein? Die ständig schmatzende Dame vor mir, der wippende Bursche neben mir, oder der starre Mann in der letzten Reihe. Keinen davon habe ich je zuvor gesehen. Wieso sind sie hier? Wer sie wohl sind und wer sie wohl für Lina waren?

© Sima B. Moussavian 2022-07-13

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