(1.1) Stell dir vor, ich küsse …

Blickkontakt ist der Schlüssel. Ich schaue den jungen Mann an, der ein paar Meter von meiner Freundesgruppe entfernt steht. Wir kennen uns vom Sehen, haben aber noch nie miteinander gesprochen. Jedes Mal, wenn er mich anguckt, erwidere ich es kurz und schlage die Augen nieder. Sein Name ist Jan. Er ist groß, etwas älter als ich und braunhaarig. Ein hübscher Kerl. Mehr regt sich bei mir nicht. Keine Anziehung, bloß die Neugier, wie weit ich den Blickkontakt treiben kann.

Es dauert ein paar Minuten, bis er mich anspricht. Wir plaudern ein bisschen und treten zusammen den Rückweg an, denn er wohnt bei mir in der Nähe. Unser Gespräch kreist um Politik, Weltanschauung und Gewohnheiten, während der Zug ratternd Richtung Zuhause fährt. Mitten im Reden erwische ich ihn, wie er auf meine Lippen schaut. Will er mich küssen? Hier?

Ich setze ein Lächeln auf. “Was ist los?”

“Das hast du gesehen, hm?” Jan kratzt sich am Hinterkopf. “Schlimm?”

Ich schüttele den Kopf und prüfe den Blick, den er mir schenkt. Etwas Hitziges steht darin. In mir dagegen knistert nichts außer einer Portion Irritation. Wir sitzen in der Bahn. Ausgerechnet hier kommt ihm der Gedanke ans Küssen? Warum?

Ehe ich mich versehe, lehnt er sich in meine Richtung und nähert sich mir.

“Das wäre mein erster Kuss”, sage ich.

“Macht doch nichts.” Er lacht auf und zuckt mit den Schultern. “Darf ich?”

Meine Gedanken rattern wie der Zug. Sollte ich es zulassen? Will ich, dass er mich küsst? Immerhin wäre es praktisch, den ersten Kuss hinter mir zu haben. Vielleicht weiß ich dann, wovon alle reden. Macht doch nichts …

Also nicke ich und lasse ich es geschehen. Seine Lippen finden meine. Geschlossen, warm, trocken. Mit sanftem Druck. Es ist nicht unangenehm. Moment mal, ich habe die Augen auf. Ich folge dem Skript, das ich in unzähligen Liebesgeschichten gelesen habe, und schließe sie. Ich ahme die Bewegungen seines Mundes nach, aber es bleibt unspektakulär. Ist er ein schlechter Küsser oder bin ich zu unerfahren? Ist der erste Kuss immer so?

Wir lösen uns voneinander. Sein Lächeln grenzt an Glückseligkeit. “Das war schön.”

Mir fehlen die Worte. Ich räuspere mich. “Findest du?”

Er nickt, deutet meine Rückfrage wohl als Unsicherheit. Das Gegenteil ist der Fall. Ich bin mir sicher, was ich eben gefühlt habe. Ich habe ihn geküsst und gefühlt habe ich … nichts. Aber vielleicht ist das so beim ersten Kuss und es verbessert sich über die Zeit. Zumindest, tja, zumindest liegt es hinter mir.

Der Zug rattert weiter und weiter und weiter.