11. Was ich nicht wissen konnte

Jasmin Hennig

von Jasmin Hennig

Story

Einige Zeit später fanden wir uns auf der Tanzfläche wieder. Wir bewegten uns im Takt der Musik zwischen laut singenden und ausgelassen tanzenden Menschen. Ich ließ mich von der unwirklichen Stimmung mitreißen, die eine wirklich gute Party und eine weit fortgeschrittene Nacht in Kombination mit der richtigen Menge Alkohol und den richtigen Menschen, auslöst.

Ich lachte und tanzte und sang mit. Und dann sah ich dich. Du lachtest und drehtest dich in deinem schwarzen Kleid unter dem Arm eines Jungen hindurch, der dich nach der Drehung mit seinen Armen umfing und dein Lachen erwiderte. Ich spürte, wie ich unwillkürlich die Augen verdrehte. Mein Kopf spielte die Möglichkeiten durch, dich aus der Situation herauszuholen – ich konnte dich fragen, ob du mir hilfst, die Getränke im Kühlschrank aufzufüllen. Oder ich konnte dich selbst um einen Tanz bitten oder dir sagen, dass der Kerl ein Idiot war. Noch bevor ich mich fragen konnte, warum ich diese Gedanken hatte, verwarf ich die Ideen wieder und konzentrierte mich wieder auf die Stimmung, die den Raum erfüllte und das Mädchen, das neben mir tanzte und das ich eben noch so intensiv geküsst hatte. Es funktionierte. Für eine Weile. Doch du lächeltest noch immer. Ein Lächeln, das dir, seit wir auf der Tanzfläche waren, wie ins Gesicht gemalt war. Ich überlegte, was mich an diesem Lächeln so irritierte. Warum es so anders war als all die Lächeln, die ich von dir kannte. Ich starrte dich einen Moment zu lange an. Ich sah, wie er dir eine Strähne aus dem Gesicht schob, die sich aus deinem Zopf gelöst hatte und wie seine Hand deine Wange berührte, bevor er dein Lächeln küsste. Dieses neue Lächeln, das ich vorher noch nicht an dir gesehen hatte. Ich rief meiner Tanzpartnerin über die Musik hinweg zu, dass ich mir noch etwas zu trinken holen wollte. Sie nickte und lächelte und tanzte weiter. Ich ging. Ich holte mir ein Bier aus dem Kühlschrank und unterhielt mich mit meinen Gästen und gab mir Mühe, mich so platzieren, dass ich die Tanzfläche nicht im Blick haben konnte. „Wie war es?!“, fragte mich ein Freund und stieß mir seinen Ellenbogen in die Rippen. Ich wusste, dass er den Kuss meinte, aber ich wusste nicht, was ich sagen sollte. „Unglaublich.“, sagte ich schließlich und er grinste.

Ein bisschen Wahrheit steckte in meiner Antwort, denn wer hätte schon vor heute Abend geglaubt, dass so etwas passieren würde? Gleichzeitig konnte ich nicht anders als den Kuss mit meinem letzten Kuss mit dir zu vergleichen. Die Erinnerung fühlte sich weit weg an, wie aus einer anderen Welt, und zugleich war sie in diesem Moment so real, als könnte ich deine Lippen noch auf meinen spüren. Wenn ich gewusst hätte, dass ich von dieser Nacht an jeden Kuss mit deinem vergleichen würde, hätte ich dich vielleicht nicht geküsst. Oder ich hätte dafür gesorgt, dass du die Person bist, die ich für den Rest meines Lebens küsse. Wer weiß das schon.

© Jasmin Hennig 2022-08-31