13. Dunkelblau

Anne-Sophie Blanke

von Anne-Sophie Blanke

Story

Erst hatte ich Sorge gehabt Benjamin ans Steuer zu lassen. Zwar hatte er normal gewirkt, ruhig und gefasst, doch die Kontrolle an ihn zu übergeben viel mir schwerer als erwartet. Wir fuhren einmal quer durch die Stadt, hielten brav an den roten Ampeln, an denen sich der Feierabendverkehr staute. Er erzählte mir von Helena, davon, dass er sie nie besucht hatte, sich nie getraut hatte sie zu sehen, aus Scham vor dem, was aus ihm geworden war. „Reden hilft“, endete er. „Ich weiß“, antwortete ich nur. Endlich parkten wir auf dem Kiesplatz. Die Sonne hatte nun zwischen den Wolken hervor gekämpft. Ihr Licht kitzelte auf der Haut; sie stand bereits tief am Himmel. Wir befanden uns an einem Friedhof. „Ich weiß gar nicht mehr, wo ihr Grab liegt“, wisperte er mit zittriger Stimme. „Fürchte dich nicht“, beruhigte ich ihn, „Folge mir“. Und das tat er, ohne zu hinterfragen, woher ich ihren Platz kannte. Ich führte ihn an den Gräbern entlang, tiefer hinein in das Labyrinth der verwinkelten Wege. Eine bedrückende Stille hatte sich breit gemacht, als Benjamin auf das Grab zuging. „Hallo, Helena“, mühte er sich ab, hervorzubringen, „Wie geht es dir? Es ist seltsam, deine Stimme nicht hören zu können. Es ist, als würde ein Teil von mir fehlen“. Er machte eine Pause. Ein angenehmes Rascheln fuhr durch die Baumkronen. Es war ihm, als konnte er sie hören, wie sie in ihrem Schlafanzug am Herd stand, ihr allerliebstes Lied vor sich hin pfiff und das Frühstück vorbereitete. „Helena“, setzte er erneut an, „Du bist seit einer Ewigkeit schon von mir gegangen und du hast mich mitgenommen. Natürlich bist du nicht der Fehler, du bist nicht schuld an den Uhrängsten, die mich plagen. Doch du hast durch deinen Tod so viel verändert, tiefe Wunden aufgerissen, da habe ich mich in eine Welt geflüchtet, in der ich nicht leben kann. Stelle sie dir wie eine Wüste vor. Ich bin am Verdursten, die Hitze hat mich versengt, ich kann kaum noch gehen. Dann sehe ich Wasser. Erleichtert laufe ich los, renne, stolpere und falle. Meine Schuhe bleiben in dem heißen Sand stecken, während ich in das nie enden wollende Loch stürze. Ich schlage hart auf kaltem Steinboden auf und statt der Wüste bin ich in einer kargen Felslandschaft gefangen. Die spitzen Steine schlitzen mir die Füße und Hände auf, während ich durch den Regen hindurch versuche, einen Ausweg zu finden. Ich finde ihn nicht. Ich rutsche ab, schlage mir den Kopf an und öffne meine Augen erst wieder, als mir die Luft ausgeht. Ich bin tief Unterwasser. Überall nur Wasser. Verzweifelt schlage ich um mich, sehe, das Licht der Sonne, wo ich hinschwimmen möchte, doch ich werde heruntergezogen, in das dunkle Nichts. Helena, so geht es immer weiter und weiter, jeder Tag ist ein nicht enden wollender Albtraum. Es tut mir leid, dass ich dir die Schuld gab. Herr Gott, es tut mir leid, dass ich MIR die Schuld gab! Weder du noch ich haben irgendwas von dem verdient, was uns widerfahren ist. Und das einzige Versprechen, welches ich dir gegeben habe, habe ich gebrochen. Ich habe nicht gelebt. Nicht einmal im Ansatz. Aber weißt du was? Das ändert sich jetzt. Heute nehme ich mein Leben selbst in die Hand. Ich habe Hilfe, Helena. Es sind Menschen in meinem Leben, die mich mögen und die mir zeigen, dass ich es wert bin. Der Mann dort hinten, zum Beispiel, er heißt Mortimer, er hat mich gerettet, obwohl er mir initial hatte helfen wollen, meinen Selbstmord durchzuführen. Es ist komisch, aber ich vertraue ihm.“

© Anne-Sophie Blanke 2024-09-06

Genres
Romane & Erzählungen
Stimmung
Dunkel, Emotional, Hoffnungsvoll