von Niklas Becker
Das Geschäft boomt. „Die Dividenden steigen und die Proletarier fallen“ wird es einmal heißen. Ernst weiß gar nicht so recht, wohin mit seinem Geld; doch augenblicklich hat er sowieso andere Probleme. Er ist mit brummendem Schädel aufgewacht. Ein latentes Bild des Vorabends treibt in seinem Unterbewusstsein sein Unwesen, während er bei über den Schwarzmarkt importierten Kaffee und einem Stück Kuchen frühstückt. Er gibt einen Schuss Whisky in seine Tasse. Diese Mischung wirkt wie die Chemikalien bei der Filmentwicklung; so wird langsam aber sicher aus vager Vermutung unbestreitbare Erinnerung. Er trinkt seine Tasse in einem Schluck leer und springt auf – er hat das Gefühl, es dreht sich um ihn herum, immer weiter und weiter – er fällt auf die Knie und übergibt sich auf seinen Fußboden. Nach einigen Minuten steht er auf, eilt zu seinen Fenstern und schließt die Gardinen. Der Haushälterin gibt er für den Tag frei, sie solle alle seine Termine absagen, er habe sich wohl etwas eingefangen. Als sie seiner Aufforderung nachgekommen ist, schließt er die Tür ab. Er kniet sich vor den Sessel im Wintergarten und tastet seine Unterseite ab, bis er auf Widerstand trifft. Er zieht eine Pistole hervor, dreht sich blitzschnell um und schmeißt sich in den Sessel. Kalter Schweiß perlt von seiner Stirn ab. Da! Etwas hat sich bewegt! Er ist sich ganz sicher – rechts am Fenster, da war jemand. Oder bildet er es sich ein? Nein! Nein, er ist kein Verrückter! Da! Schon wieder! Diesmal am linken Fenster. Ein Geräusch hinter ihm, er fährt herum und feuert in die Glasfront seines Wintergartens. Niemand da. Am Himmel zeichnen sich die aufgescheuchten Krähen ab. Ernst setzt sich wieder, trinkt noch einige Gläser Whisky im Laufe des Tages und versucht, einen kühlen Kopf zu bewahren. Die Paranoia erfasst ihn. Nichts anderes. Im 13. Kapitel entwickelt sich nicht plötzlich ein Gewissen. Ernst hat Angst, Angst um alles, was er sich durch das Leid der anderen angeeignet hat. Er dachte immer, der Mensch sei ein Spieler. Jemand, der immer weiter und weiter spielt, der niemals einen endgültigen Gewinn will, weil das Spiel sonst vorbei wäre; der nur gewinnen will, um noch mehr zu verlieren zu haben. Doch Ernst ist nicht dazu gemacht, um zu verlieren. Das merkt er nun. Er ist ein Risiko eingegangen. Seine Mutter könnte es in den falschen Hals kriegen, was er letzten Abend zu ihr sagte. Und zu viel getrunken hat er auch noch. Er ist nicht besser als die, über die er zeit seines Lebens immer gespottet hat; Menschen mit Bindungen, die ihnen alles kosten können, mit Bedürfnissen, mit Süchten, die sie unvorsichtig werden lassen. Dass seine Paranoia ebenfalls hätte vermieden werden können, wenn er keinen solch abscheulichen Lebensweg gewählt hätte, kommt ihm zwar in den Sinn, wird aber sogleich als Geistes- und Gemütsschwäche wieder verworfen. Die Stufen zum Olymp sind gepflastert mit den Leichen der Sterblichen. Er hat seine Menschlichkeit nicht geopfert, um weiterhin das Dasein eines Sterblichen zu fristen; die Zeit der Umkehr verstrich mit ihrer Manifestation auf den Grabsteinen der seinem Größenwahn geopferten Seelen. Er will sich sich selbst stellen. Er sucht nach dem Schmerz, der er bewältigt, indem er sich von ihm überwältigen lässt. In einer unmoralischen Welt macht nicht das Verbrechen schuldig, sondern die Strafe. Er muss aufhören, sich selbst zu martern. Er gießt die restliche Flasche Whisky aus.
© Niklas Becker 2024-09-05