von Katja Senger
Diesmal muss ich warten, bis wieder jemand den Raum betritt. Ich nutze die Zeit, um nachzudenken. Über die Personen, denen ich bisher begegnet bin. Über das, was heute alles geschehen ist und was es zu bedeuten hat. Es ist immer noch verwirrend, aber nach dem, was der Professor gesagt hat, habe ich eine Ahnung, um was es hier gehen könnte. Ich kann es nur noch nicht genau benennen.
Ich werde durch das Öffnen der Tür bei meinen Gedankengängen unterbrochen. Es ist wieder eine Frau. Sie trägt keine auffällige Kleidung und hat keine ungewöhnlichen Gesichtszüge. Sie wäre eigentlich eine Person, der man auf der Straße begegnen und sich nicht mehr an sie erinnern würde. Doch die leuchtend grünen Augen, die ihr eine übernatürliche Ausstrahlung verleihen, sind unvergesslich. Sie nimmt auf dem Stuhl Platz wie auch die Beiden zuvor, sieht mich an, lächelt und beginnt genauso direkt wie ihre Vorgänger: „Weißt du, welcher Gedanke mich am Leben hält?“
Ich schüttele den Kopf.
„Der Gedanke daran, wie begrenzt und gleichzeitig ewig lang das Leben ist. Vielleicht ist die erste Sache, die dir jetzt durch den Kopf geht: ‚Das ist doch vollkommen unmöglich!‘ Na ja, was soll ich sagen, es entspricht aber nun mal der Wahrheit. Zumindest meiner Wahrheit und für mich ist das genug. Ich sehe deine berechtigte Skepsis und deshalb werde ich auch direkt in meine Erklärung einsteigen. Ich denke, das mit der Endlichkeit brauche ich nicht weiter ausführen. Dass wir alle irgendwann sterben, sollte dir bekannt sein. Aber auch der Part mit der Unendlichkeit ist gar nicht so schwer zu verstehen: Wenn ich dich darum bitten würde, die Millisekunden in einer Stunde zu zählen, könntest du das?“
„Vermutlich nicht, aber es wäre dennoch eine begrenzte Anzahl.“
„Da hast du wohl recht. Wahrscheinlich wäre es auch noch eine gut vorstellbare Zahl. Multipliziert man das dann auf die Stunden eines gesamten Lebens, erhältst du immer noch eine endliche Zahl, die ist dann aber schon immens hoch. Doch jetzt – jetzt kommt der springende Punkt. Zwischen den Millisekunden liegt aber auch noch etwas. Und dazwischen wiederum auch. Selbst die vermeintlich kleinste Einheit kann nicht einfach leere Zwischenräume haben. Wenn man das Ganze so betrachtet, liegt schon eine Unendlichkeit an Mini-Momenten hinter dir und eine vermutlich noch längere davon vor dir.“
„Das ist schön und gut, aber was soll mir das bringen?“
„Was dir das bringt, weiß ich nicht. Für mich bedeutet es Folgendes: Die Endlichkeit erinnert mich daran, zu versuchen dankbar zu sein und dass ein Tief auch ein Ablaufdatum hat. Meine kleine Ewigkeit hingegen sagt mir: Es ist noch Zeit. Sie lässt mich hoffen.“
Es klopft.
„Das ist wohl mein Zeichen zu gehen. Ein abruptes Ende, aber es lässt sich nicht ändern.“ Kurz vor der Tür zögert sie und dreht sich noch einmal zu mir um. „Weißt du, auch du kannst eine Wahrheit finden, die genug für dich ist.“ Und mit diesen Worten verschwinden die magischen Augen wieder aus meinem Leben.
© Katja Senger 2021-08-04