14.Kapitel

Niklas Becker

von Niklas Becker

Story

Mit zitternder Hand führt Georgs Sohn seinen Löffel zum Suppenteller, dessen Inhalt wie bereits einmal hochgewürgt aussieht. Ratten und anderes Ungeziefer huschen durch die Gräben. Es riecht abscheulich. In seinem Bataillon gab es einen Ausbruch der Cholera. Seine Kameraden kotzen und scheißen am Fließband. Er hat seit zwei Tagen nicht geschlafen, weil das Artilleriefeuer keine Ruhezeit kennt. Es sind bereits mehr Menschen vor seinen Augen gestorben, als er in seinem Leben kennengelernt hat. Die Schreie einiger Verwundeter waren so unermüdlich, dass ein Offizier ihnen den „Gnadenschuss“, wie er es selbst nannte und beinah glaubte, verpasste. Es ist 1915. Welcher Tag, weiß er nicht genau. Doch auch seine Kameraden halten das Artilleriefeuer aufrecht. Zwei Tage später setzen sie zur Gegenoffensive an. Mit Bajonett voran stürmt er drauflos. Ein Knall, verhallt, bevor schon der nächste zu hören ist – ein Knall, gespannt zwischen Soldat und Heldentod. Eine Tretmine. Georgs Sohn rast vom Sein ins Nichts, kein Übergang, kein Akt des Sterbens, sondern nur Leben – Tod. Vom Vaterlands- und Kaiserreichshelden bleiben ein paar Fetzen seines Beines übrig. Der Rest wird nie gefunden, vermutlich, weil es nichts mehr zu finden gibt. Er wollte die Welt sehen – und er hat sie gesehen. Während wir all dies wissen, bleiben Georg und seine Frau über den Tod ihres Sohnes bis ins Jahr 1917 hinein im Dunkeln. Man hat zwischen dem Halten sinnloser Stellungen und den verschieben der Linien um wenige Meter schlicht nicht die Zeit gefunden, die Toten zu identifizieren. Bis es eines Tages an der Tür klopft. Ein Beamter der Leitungsstellen des Deutschen Heeres informiert Georg und seine Frau in kaltem, der Gewohnheit entspringendem Ton über das von ihnen bereits lange befürchtete Ableben ihres Sohnes. Details gibt es keine. Die Botschaft spricht sich herum und in kleinen Abständen statten all ihre Bekannten ihnen im Verlaufe einer Woche einen kurzen Besuch ab, um ihnen ihre Trauer und ihr Mitgefühl zu bekunden – so auch Elisabeth, die Mutter von Ernst. „Danke, dass du gekommen bist. Es bedeutet uns wirklich viel. Einen Freund wie deinen Mann könnten wir gerade gebrauchen.“ – „Das versteht sich doch von selbst. Ich – ich muss mit dir über etwas reden, Georg, unter vier Augen.“ – etwas irritiert bittet Georg seine Frau, einen kurzen Spaziergang zu machen – „Tut mir leid. Sie soll da nicht auch noch mit reingezogen werden.“ – „In was? Wovon redest du?“ – „Ernst. Er- hast du dich nie gefragt, wie er so zufällig an das Geld kam?“ – „Na, von der Frau Schulz. Sie hats dem August vermachen wollen.“ – „Doch er war schon tot. Ernst – hat sie vergiftet, um ans Erbe zu kommen. Er hat das Frostgebiet freigeben lassen, durch Bestechung.“ – „Aber wieso hat er das gemacht? Er konnte doch gar nicht wissen, dass die Nachfrage-“ – „Eben das konnte er; denn er ist der Grund für diese Nachfrage. Ich war nach einem Streit mit ihm in seinem Büro. Überall Zeitungsartikel zum Attentat auf den Thronfolger, versteckte Gelder und Waffen, Buchführung über die unvorstellbarsten Zahlungen!“ – „Soll das heißen-“ – „Ja! Ja! Ich weiß es. Ich weiß es einfach! Er hat schuld an all dem. Und er hat sich aus dem Dienst freigekauft. Aber deinen Sohn, den hat er in den Tod geschickt!“ – Elisabeth weint, Georg nimmt sie in den Arm und sagt: „Nun ruhig, Lisa, wir haben eine Beerdigung zu planen.“

© Niklas Becker 2024-09-05

Genres
Romane & Erzählungen
Stimmung
Herausfordernd, Emotional