1500 v. Chr.: Tochter Amuns

Larissa Eleonora Kathol

von Larissa Eleonora Kathol

Story

„Ich bin die Gerechtigkeit und die Lebenskraft des Re, ich bin stark und mild wie unsere Sonne. Ma’at-Ka-Re bin ich, geliebt und erwählt von Amun, sein Land zu führen!”

Die Regentin stand mit erhobenen Armen und zum Himmel gewandten Handflächen vor dem Opferschrein. Vor ihr auf der Steinplatte zu Füßen der Götterstatuen Amuns und Hathors bluteten unterdessen die geopferten Tiere aus – eine prächtig geschmückte Kuh und ein kräftiger Stier. Nun näherte sich der Hohepriester des Amun der Regentin mit der Doppelkrone in Händen. Die zu Krönende würde mit diesem Ritual zum Gottkönig aufsteigen – ungewöhnlich als Frau. Aber mit der Gunst Amuns, seiner Priester und vieler treuer Beamter war ihr dieser Schritt von der Übergangsregentin zum Pharao im eigenen Recht gelungen. Feierlich senkte der Hohepriester die Königskrone auf das schwarze Haar und damit erhob sich ein tosendes Jubelgeschrei über das gesamte Tempelgelände. Bis auf die Dächer der nahen Wohngebäude war das Publikum geklettert, um dem Moment beizuwohnen. Ma’at-Ka-Re hatte ganze Überzeugungsarbeit geleistet: mit dem ganzen Selbstverständnis einer von Amun erwählten Seele in einem Frauenkörper, der vom obersten Gott aufgrund seiner Schönheit begünstigt wurde. Und dass sie Frieden und Wohlstand bringen würde, hatte sie mit neuen, lohnenswerten Handelsbeziehungen und diplomatischem Geschick bewiesen.

Nun drehte sich die König*in herum und lächelte stolz über ihr frohlockendes Volk. Sie hob den schlanken Arm zu einem erhabenen Gruß und stieg die Treppen vom Altar zum Tempelplatz wieder hinab, um die Glückwünsche der geliebten Familie und der Priesterschaft entgegenzunehmen. Doch gleichzeitig ward sie der ehrgeizigen, neidvollen Blicken ihres Stiefsohnes und Thronfolgers Djehutimes gewahr. Sie hielt ihn noch für zu stürmisch und unvernünftig, um an den Regierungsgeschäften teilzunehmen, obwohl er schon fast volljährig war. Nur einen halben Augenblick lang schlichen sich Sorgenfalten über die feinen Brauen der König*inin Sorgenfalten. Sie hatte mit dem Krönungsritual geschworen, im Land des Nils den Frieden zu bewahren oder im Kampf darum zu sterben. Djehutimes hatte Freunde im Militär gefunden und würde gewiss Letzteres vorziehen, so kampfeslustig wie er und seine Spießgesellen waren. Vorläufig hatte Ma’at-Ka-Re die Oberhand gewonnen, indem sie Amuns Willen, sie als „schönen König im Frauenkörper” auf den Thron setzen zu wollen, kundgetan hatte. Doch sie würde weiterhin wachsam bleiben, die Macht des Neides ist nicht zu unterschätzen.

Die König*in zog ihre Tochter und ihren Vater an ihre beiden Seiten, um den Weg zum Palast anzutreten, wo alles für das grandiose Krönungsfest vorbereitet wurde. Auch das Volk war eingeladen, vor dem Palast mitzufeiern und Speis und Trank zu frönen. Ma’at-Ka-Res wichtigster Rückhalt.

© Larissa Eleonora Kathol 2021-07-31

Hashtags