von Xandi Pani
Viele Meter unter mir raste der Nachmittagsverkehr durch die Gassen. Viele Meter über mir zogen hellgraue Wolkenschafe durch das Blau des Himmels. Ein paar Meter hinter mir hörte ich eine bekannte Stimme. Benes Stimme. „Flo.“ Der Schmerz in seiner Stimme war unüberhörbar, aber auch das konnte mich nicht dazu bewegen ihm zu verzeihen. „Du kommst auch erst dann, wenn es brenzlig wird.“ Obwohl ich mit ihm sprach, drehte ich mich nicht zu ihm um, um ihm in die Augen zu sehen. Diese Augen, die ich am liebsten nie wieder sehen würde. „Du ließt mich nicht früher kommen.“, versuchte er zu erklären, doch ich war zu blind, zu gekränkt, um seine Worte zu begreifen. „Schiebst du jetzt etwa alles auf mich? Sag mal, bin ich dir überhaupt irgendetwas wert?“ Meine Stimme brach und ich ließ meinen Tränen freien Lauf. „Du hast gelogen. Und ich habe dir vertraut. Es ist Zeit für die Wahrheit Benedikt! Wer bist du wirklich?“ Er antwortete nicht sofort. Er versuchte nicht, sich irgendwie zu verteidigen. Er blieb still. Langsam drehte ich mich zu ihm um und sah ihn dort stehen. Seine Schultern waren nach vorne gesackt und seine Augen waren tränennass. Wie meine. Und in diesem Moment konnte er mir fast ein wenig leidtun, doch die brodelnde Wut in mir verbrannte mein Mitleid zu Asche. Stattdessen starrte ich ihn unverwandt an, während Tränen über meine Wangen strömten. Langsam kam er auf mich zu und setzte ebenfalls an die Kante des Daches. Obwohl wir direkt nebeneinandersaßen, kam es mir so vor, als wären wir Welten voneinander entfernt. „Flo, lass es mich dir erklären.“ Er legte seine Hand auf meine Schulter, doch statt der üblichen Wärme und dem Kribbeln fühlte ich nur eisige Kälte. Doch ich konnte mich auch nicht dazu durchringen, seine Hand abzuschütteln. „Ich will deine Erklärungen nicht hören!“, gab ich trotzig zurück, auch wenn ich mir nichts mehr wünschte. „Denk nach, Flo, woran erinnerst du dich?“ Ich bedachte ihn mit einem bösen Blick, wollte nicht mehr über ihn nachgrübeln, doch in meinem Kopf begannen schon die Zahnräder ineinander zu greifen. Woran ich mich erinnerte? Ich erinnerte mich an die Sterne. Ich sah den Nachthimmel förmlich noch vor mir. Ich erinnerte mich an den Wind. Ich konnte die kühle Brise fühlen und ich erinnerte mich an das Gefühl, als sich die feinen Härchen auf meinen Armen aufstellten. Ich erinnerte mich an meinen triefend nassen Mantel an der Bushaltestelle. Und ich erinnerte mich an den orangefarbenen Himmel und an den Geruch von Frühlingsblumen. Doch an Bene erinnerte ich mich nicht, so sehr ich es auch wollte. Seine Worte waren verzerrt und sein Gesicht verschwommen. Es war als hätte er nie wirklich existiert. Genauso wie die Blumen nie existiert hatten. „Flo, es tut mir leid. Ich bin …“ „Du bist meine Fantasie.“ Er nickte langsam. „Das heißt, all deine Worte und all deine Ideen waren von mir.“, stellte ich leise fest. Er nickte erneut. „Flo …“, begann er, doch er wurde unterbrochen von einer quietschenden Tür, die hinter uns aufgezogen wurde.
Vor meinen Augen löste sich Benedikt in Luft auf und ließ nichts zurück, was mich an ihn erinnern würde. Unsere zwei Seelen waren immer bloß eine gewesen. Deshalb hatten wir auch so perfekt zueinander gepasst. Und unsere zwei Herzen schlugen nie im Gleichtakt, denn es war immer nur ein einziges, das schlug, und das andere war das nachhallende Echo.
© Xandi Pani 2023-08-23