von Dorian Auer
Die Erkenntnis traf mich an dem Tag im Wiki-Dorf wie ein Schlag ins Gesicht: Ich war transgender. Schon seit jeher war ich das gewesen, doch hatte es nicht verstehen oder akzeptieren wollen. Nun saß ich da, in einem Mietwagen, mit einem ratlosen Verlobten an meiner Seite und mit einer ungeheuren Furcht in mir, die alles überschattete. Ich wollte nicht trans sein. Ich hatte Angst, dass man mich dafür verurteilen und verlassen würde; dass ich mein Leben aufgeben und schon wieder neu anfangen müsste. Tausend Gedanken sprangen wild in meinem Kopf umher, doch ich kam auf keinen sinnigen Punkt. Und ich flehte den imaginären Großvater im Himmel an, mit dessen Lehren man mir als Kind das Gehirn gewaschen hatte. Obwohl ich mit 18 aus der Kirche ausgetreten war, schickte ich stumme Stoßgebete gen Himmel; ein großes, jämmerliches “Oh, bitte, bitte nicht!”. Und dieses Flehen wurde nicht erhört. Zum Glück.
Als ich ein halbes Jahr später meinen ersten Termin bei einem spezialisierten Sexualtherapeuten hatte, fühlte ich mich absolut verloren und alleine. Als ich ihm meine lange Geschichte erzählte und die Worte aus mir heraus sprudelten, wie ein Wasserfall, weinte ich. Und ich wollte, dass er mir austrieb, was und wer ich war. Ich wollte, dass er mir die vielen Seiten aus meinem Skript, die ich verloren hatte, wieder zurückbringt und mein altes, kaputtes Märchenbuch für mich bindet. Doch das tat er nicht. Anstatt mir die Anleitungen aus meinem alten Leben zurückzubringen, fischte er ein neues, unbeschriebenes Buch hervor und drückte es mir lächelnd in die Hände. Es war ganz schön dick. Er gab mir einen Stift und es dauerte daraufhin eine ganze Weile, bis ich den Mut dazu fand, die leeren Seiten aufzuschlagen. Als ich die Ärmel später hochkrempelte und nach meinem Schreibzeug fischte, fragte ich mich zuerst, wie der Autor der diesmal ganz ehrlichen Geschichte heißen sollte. Und dessen Name kam so schnell zu mir, dass ich nicht lange darüber nachdenken musste: Dorian. Er war der, der sich damals immer gegen meinen verbal gewalttätigen Partner gestemmt hatte und der mit dem wissenden Nicken, wenn ich mich in Sommerkleidern unerklärlich seltsam gefühlt hatte. Er war ich. So viel verstand ich nun. Und bevor ich endlich damit anfing zu schreiben, sah ich fragend zu dem Mann, der mir viel früher einmal gesagt hatte, dass ich nur das Beste verdienen würde. Zu dem, der mit mir nach Deutschland gezogen war, um mit mir neu anzufangen. Ich fragte Dan, ob er auch bei diesem Neubeginn dabei sein wollte und könnte. Das war natürlich alles andere als leicht. Wir mussten uns komplett neu sortieren. Doch am Ende nickte Dan und gab mir einen Kuss. Also setzte ich meinen Stift an und begann damit, das Buch mit der wahren Geschichte über mich zu verfassen. Mit einer Erzählung über einen Jungen, der früher einmal wie ein Mädchen gelebt hatte, und einem Mann, der so getan hatte, als sei er eine Lehrerin. Und als ich dabei an diese beiden dachte, kam ich nicht umhin zu lächeln.
© Dorian Auer 2022-08-02