180 Stunden Kaffeetrinken

Lea Chantal Ruff

von Lea Chantal Ruff

Story
Hildesheim


6:00 Uhr: Aufstehen, schlaftrunken durch die Wohnung torkeln, ohne dabei auf eine Katze zu treten oder über den Teppich zu stolpern. Der Spiegel lacht mir garstig ins Gesicht und die dunklen Ringe unter den Augen sind Zeugen der Unterrichtsvorbereitung der letzten Nacht. Kaffeemaschine an. Tropf – Tropf – Tropf. Das dauert mir zu lange, ich schminke mich schnell. Zähne putzen, kiloweise Concealer auftragen, mit der Wimperntusche ins Auge stechen und kurz die Tränen wegblinzeln. Als nächstes Tasche packen, Frühstück machen und dann los. An der Bushaltestelle angekommen, fällt mir mein frischer Kaffee wieder ein, der noch immer an der Maschine steht.

07:45 Uhr: Nachdem der Bus eine elendig lange Verspätung hatte, weil wir zwischendrin drei Baustellen ausweichen und einen Unfall umfahren mussten, komme ich nun leicht gehetzt an der Schule an. Das erste Klingeln, alle Kinder rennen in ihre Klassenräume. Rums. Ein Kind fällt zu Boden, Tränen, Schreie. „Lea!“, schreit das kleine Mädchen mit den blonden Locken, die sich langsam rot färben, weil sie eine Platzwunde hat. Also umdrehen und hinlaufen. Trösten, ins Krankenzimmer bringen, Eltern informieren und ins Klassenzimmer rennen.

08:15 Uhr: Der Unterricht beginnt. Deutsch. Das eigentliche Thema ist der Buchstabe Z, aber ein Kind findet es wesentlich interessanter, seine Mitschüler*innen zu ärgern. Zwei Mädchen streiten sich über die Sitzreihen, was den Unterricht ebenfalls dezent stört. Stopp. Kinder auseinandersetzen und weitermachen. Kurze Pause. Mathematik, das gleiche Spiel wie vorher, nur dieses Mal mit Zahlen, statt mit Buchstaben.

09:55 Uhr: Große Pause, endlich fünf Minuten Pause, einen Kaffee und frühstücken. Mist, ich habe ganz vergessen, dass ich heute mit Aufsicht dran bin. Also keinen Kaffee. Kinder schreien, Kinder toben, Kinder streiten. In den Pausen muss man plötzlich noch mehr leisten, als zu unterrichten und Schüler*innen ein gutes Vorbild zu sein. Man muss Streitschlichter*in, Schmerztröster*in und Schiedsrichter*in sein. Man muss schauen, ob eines der Kinder gerade versucht über den Zaun zu klettern, Vogelbeeren an andere Kinder verteilt oder aber Sand isst.

12:45 Uhr: Der Tag ging ähnlich weiter, die ersten fünf Stunden sind geschafft, zwei Kinder haben gebrochen, vier Kinder haben geweint, ein Kind hatte Angst auf die Toilette zu gehen und hat es daher nicht getan. Ich habe Hausschuhe und Stifte gesucht, Pflaster geklebt, gelesen, gerechnet und Geschichten erzählt. Wir haben Welten mit Worten erschaffen und Angstmonster besiegt. Ich habe Tränen getrocknet und Streit geschlichtet.Habe den Klassenraum aufgeräumt, die Tafel gewischt und im Hort ausgeholfen, weil wir Personalmangel haben.

16:15 Uhr: Wieder daheim, jetzt den Unterricht für morgen vorbereiten, Arbeitsblätter drucken und endlich einen Kaffee trinken.

© Lea Chantal Ruff 2023-08-30

Genres
Romane & Erzählungen
Stimmung
Herausfordernd, Emotional, Inspirierend, Reflektierend
Hashtags