von Annika Harrison
„Es war einmal vor sechzig Jahren eine Frau, die hieß Jutta.“„Papa, kann das auch wieder eine Liebesgeschichte sein?“„Okay. Jutta rannte durch den Wald. In ihren Schuhen fingen sich die groben Kiesel, als ob sie ihr bewusst in den Weg gelegt wurden. Ihre Gedanken brandeten wie Schiffe an einer Klippe an ihre Schädelwand. Mutter hatte den Liebesbrief entdeckt. Würde sie nun unter Hausarrest gestellt? Durfte sie am Samstag in den Tanzklub gehen? Wären die nächsten drei Jahre, bis sie 21 wurde, eine Tortur aus Kontrollen und zwanghaften Treffen mit Vertretern der Männerwelt?An der Linde stand schon ihre Verabredung. Jutta fiel Christiane in die Arme.‚Ich hatte schon Angst, du würdest nicht kommen.‘, schluchzte Jutta.Christiane küsste Jutta auf die tränennassen Wangen. ‚Ich werde immer da sein.‘, sagte sie schlicht.“
„Papa, sollte das nicht auch eine Romanze sein?“
„Ist es! Hör weiter zu. Jutta legte die Arme um ihre Freundin.‚Meine Mutter hat den Brief gesehen.‘, murmelte sie und drückte sich an die vertraute Schulter. Sie sog die Luft tief ein und badete im beruhigenden Geruch nach Lavendelseife. ‚Chris, ich hab so Angst. ‘Christiane schob Jutta sanft von sich weg. ‚Ich versteh dich kaum, wenn du mir das so in den Pullunder murmelst. Was für einen Brief hat sie denn gesehen?‘‚Den mit der getrockneten Rosenblüte.‘Christiane verzog die Stirn. ‚Den hab ich im März geschrieben, oder?‘‚Ja. Du redest da über den Tanzklub und heiße Küsse.‘, erklärte sie und drückte die Nase tiefer in den Strickstoff.‚Ich erinnere mich. Aber du vielleicht nicht mehr. So ein Kuss etwa?‘, meinte Christiane und küsste ihre Freundin voll auf die Lippen.“
„Ihhh, Papa! Ein Kuss!“
„Was denn, du wolltest doch eine Liebesgeschichte.“
„Ja, aber nicht mit Küssen! Ich find das toll, dass Christiane und Jutta sich lieben. Aber nicht mit Kuss!“
„Okay. Also dann: Jutta kicherte als Antwort. Die Tränen rollten nicht mehr unablässig ihre Wangen hinunter und ihr Atem ging ruhiger.‚Bis du 21 Jahre alt bist, ist es ein Spiel auf Zeit.‘, meinte Christiane und streichelte mit dem Zeigefinger die Erhebung von Juttas Wangenknochen entlang.‚Ich muss zurück. Als ich Mama mit dem Brief in der Hand gesehen habe, konnte ich dich nur noch von der Telefonzelle anrufen und dann bin ich gerannt.‘‚Ich bringe dich noch ein Stück.‘ Christiane hakte sich bei Jutta ein.Als sie einige Zeit gelaufen waren, schlug Christiane sich plötzlich mit der Hand vor die Stirn. ‚Ich Schaf!‘‚Was ist denn los?‘Erleichtert lachte Christiane los. ‚Erinnere dich doch bitte mal an den Brief vom März. Wie hab ich da unterschrieben?‘‚Naja, mit Chris, wie immer.‘‚Genau!‘ Christiane schaute Jutta nur abwartend an, bis sie verstand.‚Oh.‘Christiane schwenkte ihre Freundin übermütig herum. ‚Genau! Wir müssen nur einen Christian oder einen Christoph finden, dem man zutrauen würde, eine Blume zu trocknen!‘ quietschte sie.Hand in Hand gingen die Frauen, bis die Bäume sich lichteten.“
© Annika Harrison 2022-08-08