1.Advent – Wo bin ich hier gelandet?

JohannesGemuk

von JohannesGemuk

Story

Ich verstehe, weshalb viele die Weihnachtszeit belastend finden. Beim Fest der Liebe und Familie fehlt es manchmal an beidem und die meisten rund um den Tisch fragen sich, wieso sie sich das antun. Ich möchte nicht sagen, dass es bei mir ganz so schlimm ist, aber an Adventsonntagen wie dem heutigen, kann ich die Grundstimmung nachvollziehen.

16:03 Ankunft mit vornehmer Verspätung. Begrüßung aller Anwesenden und Punsch wird gereicht. Bis hierhin alles gut

16:08 Wir sitzen rund um den schön dekorierten Tisch und falten plötzlich die Hände. Meine Schwester spricht ein Gebet. Ich wusste nicht, dass wir gläubig sind. Ist das eine Phase? Ich stammle am Ende ein verblüfftes “Amen” und schau mich um. Scheint keinen zu überraschen. Ich sollte vielleicht öfter mal zu Hause anrufen…

16:09 Papa und meine Stiefmutter lesen einen Weihnachtsdialog vor. Hab den Anfang nicht mitbekommen und verstehe nicht, worum es geht. Es soll offensichtlich lustig sein. Am Ende wird gefragt, ob ich die Rollen oder den Autoren kenne. Ich verneine und alle sind beruhigt, da es mir kein Lachen entlockte.

16:15 Ich koste mich durch ein paar Kekse, die die Mädels gebacken haben. Finde aber meine mitgebrachten viel besser und überlege, das Rezept den weniger erfolgreichen Familienmitgliedern später weiterzugeben. Meine Stiefmutter ist von meiner Kritik nicht begeistert.

16:24 Wir singen ein Adventlied und haben es diesmal geschafft, jeden einzelnen Ton so in Schieflage zu versetzen, dass es wie ein ganz neues Lied geklungen hat. Leider kein Schönes.

16:26 Opa fragt mich nach der Frau, mit der ich mich in den letzten Wochen oft getroffen habe. Noch recht heartbroken flĂĽstere ich ihm zu, dass das nicht mehr aktuell ist. Daraufhin lässt er mich dankenswerterweise zum Mittelpunkt der Tischgespräche werden, indem er sch lautstark erkundigt: “Achso, is scho aus? Wieso seid’s nimma zam?” TaktgefĂĽhl einer kaputten Standuhr.

16:47 Nachdem meine kleinen Halbschwestern zu Kinderliedern tanzen, die furchtbar klingen, aber immerhin richtig gesungen werden, kommt die Ă„ltere von beiden (volksschulpflichtig) zurĂĽck an den Tisch mit einem Wandkalender fĂĽr 2021. „Ein Lichtblick“, denke ich und sollte mich täuschen. Oma erklärt, der Kalender stammt von einem Landgut, dass arme Tiere rettet und aufnimmt. Und jene finden sich auf den einzelnen Seiten des Kalenders. Meine Schwester drĂĽckt ihn mir zur Begutachtung in die Hand und meint, ich solle nachsehen, welches Tier, in meinem Geburtsmonat an der Reihe ist, mit dem Verweis, dass ich das dann “bin”. Ich mag Kinder…Ich blättere mich zu meinem Geburtsmonat und seufzte. Zu sehen ist ein kahler Truthahn, der wirklich einen bemitleidenswerten Eindruck macht. Er hat aus unbekannten GrĂĽnden seine Federn verloren, weshalb man ihm einen Strickpullover ĂĽbergestĂĽlpt hat.

16:51 Ich weigere mich, dieser Truthahn zu sein und beschließe bald aufzubrechen.Bin für nächste Woche wieder eingeladen. Freu mich schon drauf!

© JohannesGemuk 2020-11-29

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