von Jürgen Heimlich
Ich ging zügig dem Bus entgegen. Gerade, als ich mir die Maske aufgesetzt hatte, und der Tür zustrebte, um einzusteigen, setzte sich der Bus in Bewegung. Der Fahrer hatte genau gesehen, dass ich einsteigen wollte. Vor ein paar Monaten hätte ich deswegen noch geflucht. Aber es gibt Wichtigeres, als sich über Zeitgenossen zu ärgern, die sich einen Spaß daraus machen, ihren Mitmenschen gegenüber bösartig zu sein.
Somit setzte ich mich in den nächsten Bus. Der Fahrer machte kurz Pause. Wenige Minuten später startete er den Motor und war kurz davor, abzufahren. Da ging die Türe gleich bei mir in der Nähe auf und eine junge Frau, die wohl vor kurzem eine Knieoperation gehabt hatte, stieg in den Bus ein. Sie rief Richtung Fahrer „Danke!“. Mehr noch: Der Fahrer wartete noch einige Sekunden ab, und ließ einige weitere Fahrgäste einsteigen. Dann startete er endgültig seine Fahrt.
Zwei Busfahrer. Zwei konträre Charaktere. Mit dem Ersten wäre ich nie auf ein Bier gegangen. Mit solchen Leuten will ich mich nicht abgeben. Der Zweite hingegen war sehr aufmerksam, und bemerkte wohl, dass die junge Dame dem Bus entgegen humpelte, weil sie es eilig hatte. Also ein Mensch, mit dem ich mich gerne unterhalten hätte. Gerade in diesen Zeiten werden zwei Charakterzüge des Menschen deutlich erkennbar: Der Egoismus und die Empathie. Egoistische Menschen wollen sich ihre „Freiheiten“ nicht nehmen lassen, und es interessiert sie nicht, wie es den Mitmenschen geht. Empathische Menschen denken nicht nur an sich, sondern öffnen sich für die Mitmenschen. Wer nur an sich selbst denkt, kann seines Lebens nicht froh werden. Und ich erinnere mich, dass der erste Busfahrer einen verdrossenen Eindruck vermittelte. Den Zweiten habe ich nicht gesehen. Ich traue mich aber zu wetten, dass er freundlich gewirkt haben wird.
Eine Station, bevor ich ausstieg, kam ein Mann um die 80 auf mich zu und senkte seinen Kopf so, dass er das Cover des Buches, das ich las, sehen konnte. Einen Moment später hielt er mir sein Smartphone entgegen. Mir blickte Dali entgegen; ein Buch über seine Kunst. Der Mann wirkte sogar unter seiner Maske fröhlich. Er wollte mir wohl ohne Worte sagen: „Gut, dass wir einander in diesem Bus begegnet sind.“ Ja, es war in der Tat gut, einem Menschen zu begegnen, der wie ich ein starkes Interesse für Kunst hat und sich über diese Gemeinsamkeit freute. Und es war gut, von einem Busfahrer kutschiert zu werden, dem das Wohl seiner Fahrgäste am Herzen liegt.
Ich erlebte diese Busfahrt wie ein kleines Abenteuer mit positivem Ausgang.
© Jürgen Heimlich 2020-10-06