2-Stunden-Therapie

Luna Winkler

von Luna Winkler

Story

Es nieselt, als ich in den Bus steige. Es ist kurz nach Weihnachten. Dieses Weihnachten, an dem das erste Mal kein Wunschzettel geschrieben wurde. Ich nichts bekommen wollte, es doch tat und mit verstohlen geweinten Tränen in den Augen das verhasste Geschenk entgegennahm.

Ich sehe aus dem Fenster. Sehe grau. Wie seit Monaten. In zwei Tagen also würde es heißen “Frohes neues Jahr!”. Nein danke. Ich weiß schon jetzt, dass es das nicht wird. Es wird genauso verheult, krank und beschissen anfangen, wie das letzte geendet hat. Irgendwann steige ich aus. Laufe mit tauben Beinen Richtung Flachdachbunker. Stehe vor der Tür. Suche die Klingel, werde fündig.

Im Vorraum der Kinder- und Jugendpsychatrie sieht es aus wie in einem Kinderarztpraxis-Wartezimmer. Mit dem Unterschied, dass die Dame an der Anmeldung mich unfreundlich von oben bis unten mustert, sich wohl fragt, welche VerrĂĽckte nun wieder den Weg in dieses Haus gefunden hat und mich dann stumm auf einen Stuhl verweist.

Also sitze ich da. Und warte. Und hoffe, dass ich nicht völlig verstörend wirke, als ich zu dem Mädchen mit den gerissenen Strumpfhosen und der schwarzen Gothik-Kluft hinüberschiele. Apathisch meine Blicke an den Wänden entlanggleiten lasse. Und schließlich aufgerufen werde.

Doppelname. Mehr merke ich mir nicht, was da auf dem bemalten Schild steht, als die Therapeutin mich in ihr Büro geleitet. Die Oberärztin, wie ich erst Wochen später herausfinden werde. Geballte Kompetenz, die da mir gegenüber Platz nimmt und mich zum Reden bittet.

Ich tue ihr den Gefallen. Auch, wenn ich ihr meinen gesamten Monolog ĂĽber nicht in die Augen sehen kann. Ihren Blick meide, den meinen an die Steckdosenleisten unter ihrem Schreibtisch hafte oder damit schnell zum Fenster flĂĽchte.

Keine Unfreundlichkeit, zumindest nicht gewollt. Aber Selbstzweifel. Und vielleicht sogar Scham. Viel Schmerz.

Mein Bericht endet. Das Fliegen des Kullis über das leere Blatt auch, dass nun ziemlich voll ist. Ich gehe. Starre mich selbst im Spiegel an. Erstgespräch heil überstanden.

Gestern nieselt es nicht. Ich werde freundlich begrĂĽĂźt. Junger Asiate, Brille, dunkle Haare. Nehme auf dem selben Stuhl platz. Gleiche Prozedur, nur kĂĽrzer, anderes Zimmer.

Die Therapeutin, sie entschuldigt sich für die Unordnung im Raum, sie sei eine kleine Chaotin, erklärt sie. Sofortige Sympathie. Ob ich es nochmal erzählen könnte. Ich bejahe, berichte. Sehe ihr dabei fest in die Augen, mit straffen Schultern, ohne Scham. Ohne Zweifel. Als ich nach 30 Minuten das erste Mal inne halte, spiegelt ihr Gesicht Hochachtung. Als ich ihr sage, dass ich schreibe, hört sie gar nicht mehr auf zu grinsen. Wie ich es nur geschafft hätte, ganz ohne Hilfe, diese Anpassungsstörung mit depressiven Zügen zu bewältigen. In Eigeninitiative mit den selben Mitteln, die sie angewandt hätte.

Selbstheilung. Dass sie mir so gar nicht mehr zu helfen weiß. Dass sie mich bewundert, ich inspirierend sei. Abschlussgespräch beendet.

© Luna Winkler 2022-02-05

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