22:18 Uhr

Helena Singer

von Helena Singer

Story

Irgendwann setzte sie sich wieder aufs Parkett und sah erneut aus dem Fenster.
Inzwischen fielen mehr Schneeflocken als Regentropfen gen Erde und sie dachte, was gewesen wäre, wenn er nicht gegangen wäre. Wenn er Heiligabend hier geblieben wäre. Wenn das Geschirr sauber und sie geduscht und das Haus voller Leben und Lachen und er bei ihr und sie in seinen Armen. Aber das war Vergangenheit.
Sie dachte an das Märchen von Hans Christian Andersen und daran, ob sie wohl auch einfach im Schnee einschlafen könnte, während sie die schönsten Dinge träumte.

„Was soll dieses Selbstmitleid?“
Sie wandte den Blick ab vom Fenster. Er stand, die Arme verschränkt und grinsend, in der Küchentür. Sie seufzte leise.
„Du weißt ganz genau, dass es besser so ist. Mit dir hätte er sich nur abgemüht. Mit ihr ist er viel besser dran.“ Sie nickte und blickte auf die Haustür, als könnte sie jeden Moment wieder von außen aufgeschlossen werden.
„Er wird nicht zurückkommen. Was will er mit dir? Die paar Mal, die er dich besuchen kommt, macht er das sowieso nur aus Pflichtgefühl.“
„Ich weiß.“
„Vergiss das auch nicht. Naive Hoffnung brauchen wir nicht.“

Er setzte sich neben sie und lehnte sich mit dem Rücken an die Tapete.
Dann bedeutet er ihr, näherzurücken und sie legte ihren Kopf auf seinen Schoß.
Während er ihr über den Kopf strich, beobachtete sie wieder die Schneeflocken.
„Ich vermisse ihn“, sagte sie irgendwann ganz leise.
„Er dich nicht. Warum sollte er auch? Ihm fehlt ja nichts. Schau dich doch mal an, wie erbärmlich du bist. Du bekommst nichts auf die Reihe – hast du Arbeit? Freunde? Und dann bist du noch nicht einmal hübsch. In erster Linie ist es doch ein Wunder, wie lange er dich überhaupt ausgehalten hat.“
Er lachte gehässig und zwirbelte an ihrer lockigen Haarsträhne, sodass sie kurz vor Schmerz die Augen zusammenkniff. „Aua“
„Du magst sie nicht hören, die Wahrheit, oder? Manchmal bist du wirklich noch naiv und verblendet.“
„Hör auf damit.“ „Shhhhh, ganz ruhig. Ich will dir doch gar nichts Böses,“ er nahm ihren Kopf in beide Hände und drehte ihr Gesicht in seine Richtung. Er lächelte und sie wusste es nicht einzuordnen. „Ich bin für dich da. Ich bin immer an deiner Seite, mich schreckt die Wahrheit nicht ab. Ich sehe wie du wirklich bist, all deine Fehler.“
Sie versuchte den Kopf zu drehen, den Blickkontakt zu unterbrechen, aber sein Griff war zu fest und sein Lächeln wurde breiter. „Wir gehören zusammen. Du brauchst mich“
„Eigentlich wäre ich gerade gerne alleine“ presste sie hervor.
„Du hast nur noch mich, weil dich sonst keiner erträgt.“ Er spuckte ihr die Worte entgegen und ließ dann ihren Kopf los. Sie rappelte sich auf, rutschte von ihm weg, spürte die Tränen in ihren Ohren, auf ihren Wangen und wickelte die Decke noch fester um sich. „Bitte, hör auf damit“, flüsterte sie und spürte, wie ihre Stimme zitterte. „Jedem, was er verdient“ Er lächelte wieder, erhob sich und sah auf sie herunter. „Ich bin da, wenn du mich suchst,“ er zwinkerte und ließ sie alleine auf dem Parkett zurück.
Draußen herrschte nun reges Schneetreiben.
Sie dachte an die Kälte und Schwefelhölzer.

© Helena Singer 2024-08-27

Genres
Romane & Erzählungen
Stimmung
Herausfordernd, Dunkel, Emotional