von Sonja DaprelĂ
Verschlafen öffnet Fiona die Augen und nimmt die gedämpften Geräusche um sich herum wahr. Die Luft ist erfüllt von raschelnden Rucksäcken, leisen Gesprächen und dem wohligen Duft von frischem Brot und Kaffee. Sie liegt in der Albergue La Fábrica, wo sie am Vorabend mit viel Glück noch einen freien Platz ergattern konnte. Die letzten Etappen sind überfüllt, da hier der Camino und der Frances zu einem einzigen Strom aus Pilgern verschmelzen. Fiona setzt sich auf, blickt durch den Raum, wo andere Pilger sich leise auf den Tag vorbereiten. Menschen jeden Alters bereiten sich auf den heutigen Tag vor—ein Tag, der für viele der Höhepunkt ihres Weges sein wird. Auch für sie. Manche wirken aufgeregt, andere versunken in Gedanken. Sie weiß genau, warum: Heute erreichen sie Santiago. Ein Kribbeln breitet sich in ihrem Bauch aus. Ein letzter Tag, ein letzter Weg. Noch einmal den Rucksack packen. Ein morgendliches Ritual, dass ihr längst in Fleisch und Blut übergegangen ist. Eine vertraute Routine, die ihr Sicherheit gab. Doch heute fühlt es sich anders an. Sie hält inne, ihre Finger verweilen einen Moment länger an den Gurten. Der Abschied von diesem Ritual macht ihr bewusst, dass ihr Weg sich dem Ende nähert. Zögernd blickt sie zur Tür, als würde sie die ersten Schritte noch hinauszögern. Heute ist der letzte Tag. Der Gedanke trifft sie mit sanfter Melancholie. Wie viele Morgen hatte sie sich bereits aufgemacht, voller Erwartung, voller Neugier auf den Weg vor ihr? Doch heute gibt es keinen nächsten Abschnitt mehr—nur das Ziel. „Schade“, denkt sie leise, während eine leichte Wehmut in ihr aufsteigt. Während Fiona Schritt für Schritt gegen Santiago de Compostela wandert, wirbeln unzählige Gedanken durch ihren Kopf. Erinnerungen an den Weg ziehen an ihr vorbei, die weiten Felder, die duftenden Eukalyptuswälder, die steinigen Abschnitte, die von ihr alles abverlangt hatten sowie die hitzigen Nachmittage und die kühlen Morgen, die sie erlebt hat. Sie denkt an die Menschen, denen sie begegnet ist, die freundlichen Cafébesitzer, die ihr ein Lächeln schenkten, die Pilger, die sie auf einer Etappe begleiteten, ihre Geschichten mit ihr teilten. Manche Begegnungen waren kurz, andere tiefgründig, doch alle haben ihre Reise bereichert. Die Frage, die sie sich immer wieder stellt: Was kommt nach Santiago? Sie hatte wochenlang dieses Ziel vor Augen, doch jetzt, da es so greifbar nah ist, spürt sie Unsicherheit. Wird es sich so besonders anfühlen, wie sie es sich vorgestellt hat? Wird die Freude über das Erreichen des Ziels stärker sein als die Wehmut darüber, dass ihre Reise endet? Nach 3 Stunden Gehzeit erreicht Fiona den Monte do Gozo. Vor ihr breitete sich Santiago aus. Ein Moment, der für viele Pilger mit tiefen Emotionen verbunden ist. Ein Gefühl zwischen Staunen und Ungläubigkeit stieg in Fiona hoch. «Hallo», Fiona wird aus ihren Gedanken gerissen. Das nette Ehepaar aus Argentinen, Jules und Fernanda, winken ihr freudig zu. «Wir sind fast am Ziel, ein schönes Gefühl!» Freude durchströmt Fiona und sie antwortet vor leiser Ehrfurcht: Ja, kaum zu glauben, vor drei Tagen waren wir noch Fremde und jetzt stehen wir da als Freunde.» Sie nehmen sich einen Moment Zeit, atmen tief durch und lassen die Aussicht auf sich wirken—die Stadt, das Ziel, das Ende eines Weges. Fiona verabschiedet sich von den Beiden, denn sie wollte die letzten Schritte alleine gehen.
© Sonja Daprelà 2025-06-07