von Sophia Patzelt
Ich war von Wasser umhüllt. Es strömte in meine Nase und zwischen meinem Haar, meinen Fingern und Zehen hindurch. Mit jedem Schwimmzug, der mich von den Klippen fortbrachte, sickerte es tiefer in mich.
Ich brach durch die Oberfläche, spürte das Licht und die Sonne auf mir und verschwand erneut im See, tauchte tiefer und tiefer. Kalte Strömungen glitten über meinen Körper hinweg und ich öffnete die Augen. Ich konnte schon immer gut Unterwasser sehen, selbst hier, wo es derart trüb war. Ein Schwarm Karpfen pilgerte an mir vorbei. Alles funkelte und glänzte. Tief unter mir konnte ich vage den Grund ausmachen, eine Mischung aus Sumpf, Algen und Geröll. Aber auch etwas Anderes: Einen Reigen geisterhafter Schmetterlinge und Libellen, die sich zu dem Hafenspiel einer Nymphe im Wasser drehten. Halb durchscheinend, doch wunderschön, kniete sie auf einem Thron aus toten Barben, Zandern und Aalen und hypnotisierte die Insekten Überwasser mit ihrer Musik, sodass sie sich ertränkten, ohne es zu merken. Was ich sah, waren also bloß noch ihre verlorenen Seelen.
Unser See war magisch. Zumindest für diejenigen, die er an seinen Wundern teilhaben ließ. Kinder, aber auch Erwachsene, die nicht verlernt hatten, im Angesicht der Natur zu staunen und fürchten – wie Opa Hel. Einmal hatte ich einen kleinen Wassermann dabei erwischt, wie er mit seiner Forellenflosse ein Ruderboot anschob. Ein anderes Mal hatte er das gleiche Boot am Vorankommen gehindert. Für Fremde blieb diese Welt verborgen und ich wusste nicht, ob ich es überleben würde, neben allem, was ich durch den Umzug hinter mir lassen würde, auch noch die Magie zu verlieren.
Schwimmen war meine Leidenschaft. Es war die eine Sache, die ich wirklich gut konnte, und ich hatte einen Berg voller Medaillen, der mich daran erinnerte, wann immer ich an mir zu zweifeln begann. Wenn ich mich im Wasser bewegte, fühlte ich mich frei. Ich trainierte, seit ich fünf Jahre alt war, arbeitete täglich an meiner Kraft, meiner Geschmeidigkeit und Schnelligkeit. Ich optimierte meine Haltung, den Bogen, den mein Arm schlug, die Art und Weise wie ich atmete und meine Füße hielt. Solange, bis ich zufrieden war. Solange, bis ich einen Stil perfekt ausführte. Im Schulschwimmbecken und in Wettkämpfen kraulte ich, aber im See liebte ich das Brustschwimmen. So konnte ich mich bei jedem neuen Schwimmzug von der Magie Unterwasser verzaubern lassen.
Ich ging an einer brüchigen Treppe an Land, kletterte durch das Gebüsch zu meiner Tasche und holte einen von Oma Lis’ alten Briefpapierbögen sowie meinen Füller hervor.
Liebe Mama, schrieb ich.
Ich habe es mir anders überlegt. Ich hoffe, du kommst niemals zurück. Denn solange du nicht zurückkommst, muss ich nicht gehen. Und ich will nicht mit dir gehen. Ich will nicht in eine neue Stadt ziehen. Ich will nicht an eine neue Schule wechseln, neue Freunde finden, mich in einer neuen Schwimmmannschaft beweisen müssen. Ich will nichts Neues. Ich will –
Hinter mir knackste es. Ich fuhr zusammen. Eine Windbö drängte von unten gegen das Papier, entriss es mir – und mein Brief flog davon.
© Sophia Patzelt 2023-08-30