von Katja Senger
Vor einem Jahr und sechs Monaten – „Du weißt, dass wir dich lieben, oder?“ Ich nicke. „Und dass wir uns Sorgen um dich machen?“ Ich nicke wieder. „Sehr sogar. Es kann so nicht weitergehen. Du musst etwas dagegen tun.“ Stille. „Man muss dagegen angehen. Sich nicht einfach hinlegen und aufgeben … Wenn du dich wenigstens mehr bewegen würdest oder öfter an der frischen Luft wärst … Das ganze Grübeln und in deinem Zimmersitzen tut dir nicht gut.“ Ich kann ihnen nicht einmal in die Augen schauen. „Du hast doch kein schlechtes Leben. Ein sehr gutes sogar. Essen auf dem Tisch. Dach überm Kopf. Fließend Wasser und ein eigenes Bett. Es gibt doch nichts, worüber du dir solche Sorgen machen müsstest.“
Ein weiteres Nicken. Zu mehr bin ich nicht fähig. Kann die Kraft nicht dazu aufbringen, etwas zu sagen. Mich womöglich zu erklären. Sie würden es eh nicht verstehen. Sie können es gar nicht. Ich begreife es doch selbst nicht einmal.
In meinem Zimmer fangen die Tränen an über mein Gesicht zu laufen. Leise. Ich bin geübt darin, ohne jeglichen Ton zu weinen. Ganz für mich allein. Wenn sie nur wüssten. Wenn sie mich nur sehen könnten. Sehen könnten, was in meinem Kopf vorgeht. Dann würden sie vielleicht – ganz vielleicht – begreifen, dass es mir jetzt schon besser geht. Dass ich jeden Tag dagegen angehe. Und wie verdammt anstrengend das ist, gegen alle Gedanken anzukämpfen.
Denn das ist es, was 24 Stunden lang andauernd in mir stattfindet: Ein Kampf. Krieg.
Die irrationale Stimme gegen die rationale: „Sie hassen mich alle. Hinter meinem Rücken ziehen sie bestimmt über mich her.“ „Das macht doch gar keinen Sinn. Wieso laden sie dich dann ein? Wieso verbringen sie dann freiwillig Zeit mit dir?“
Verzweiflung gegen Hoffnung: „Ich kann das nicht. Ich schaffe es nicht. Ich habe die Kraft dazu nicht.“ „Doch hast du. Du hast das schon so oft überwunden. Dann kriegst du es diesmal auch hin.“
Dunkelheit gegen Licht: „Ich will nicht mehr. Ich will gar nichts mehr.“ „Oh doch. Tief in deinem Inneren weißt du, dass du dir nichts sehnlicher wünscht.“
Und wer gewinnt?
Die rationale Stimme, Hoffnung und Licht können nur durch meine Energiereserven existieren. Sie brauchen meine Unterstützung. Sie entstehen erst durch meine Willenskraft. Die irrationale Stimme, Verzweiflung und Dunkelheit hingegen – die sind einfach so da. Sie finden ihre Stärke in sich selbst und das verleiht ihnen große Macht. Doch das heißt nicht, dass die andere Seite aufgibt. Das heißt nicht, dass ich aufgebe. Ich habe diesen Krieg ja erst begonnen. Ich kämpfe doch dagegen an. Dennoch bemerken sie das nicht.
Aber wieso können sie das nicht erkennen?
Warum können sie das nur nicht?
Warum?
© Katja Senger 2021-05-20