3. Reinhold

Laura Verena Stein

von Laura Verena Stein

Story

Ich muss hier raus.

Das denke ich jedes Mal, wenn ich früh morgens die verpeilten Leute sehe, die vor lauter Handybildschirmen und Kopfhörern nicht merken, dass sie aussteigen müssen, kurz vor knapp raus rennen und mir den Fahrplan versauen. Gerade da, ein junger Typ rennt raus, obwohl sich die Türen schon schließen. So wie der aussieht, hat der die Nacht durchgesoffen oder ist immer noch auf irgendwelchen Drogen. Er starrt mich an, während er an mir vorbeiläuft, als hätte er noch nie einen Menschen gesehen. Einer seiner Schnürsenkel ist offen, die Jacke sitzt schief. Meine Fresse.

Ich fahre diese Strecke jeden Tag. Seit Jahren. Nichts hat mich aufgehalten, eigentlich hab ich die Ausbildung nur gemacht, um ein bisschen Geld auf der Seite da zu haben, aber hängen geblieben bin ich trotzdem. Warum ich die gemacht habe, weiß ich auch nicht. Schien mir ein Beruf mit Sicherheit. Jetzt weiß ich, das hier ist mit Sicherheit kein Beruf.

Wenn es regnet und nass ist, fühlt es sich an wie ein schlechter Film noir, bei Sonne schmelze ich in meiner Kabine, und heute, an meinem freien Tag, muss ich einspringen und ertragen, wie die allermeisten Erwachsenen dieser Stadt nicht in der Lage sind, in eine verdammte S–Bahn einzusteigen, die sowieso nur wie im Kinderzimmer im Kreis fährt.

Natürlich sitzt bei mir ein versoffener Penner drin und legt sich auf die Sitze. Natürlich kippt der sein Scheiß Bier aus. Und natürlich sitzen weiter hinten die Assi-Kinder, die überlaut schlechte Musik hören. Und natürlich hab ich auch die scheiß Kläffer von den Leuten mit drin, die keine Hunde halten können. Ich hasse es. Ich hasse es einfach so sehr. Mein Leben ist ein Disater, mein Beruf eine Enttäuschung, meine Ehe ein Trauerspiel. Der Tag kann echt nicht mehr schlimmer werden.

„Sehr geehrte Damen und Herren, die Fahrt wird an diesem Punkt unterbrochen. Grund dafür ist ein Personenschaden am Gleis.“

Die Sanitäter haben mir eine Decke gegeben. Ich weiß nicht, was ich mit einer Decke machen soll. Sie ist blau und weich und hat einen bestickten Rand. Aber was macht man mit einer Decke, wenn man gerade ein Mädchen überfahren hat? Die ist einfach davor gesprungen. Ich konnte nicht mehr bremsen. Ich konnte es nicht mehr.

Ich weiß nicht, was ich machen soll.

© Laura Verena Stein 2022-08-31