3. Wegerich

Eva-Maria Wagner

von Eva-Maria Wagner

Story

Erwachsene, die den Spielplatz betreten, sehen oft nur, was fehlt. In den Anfängen gab es keine Rutsche, keinen Sandkasten und keine Schaukeln. In den Anfängen gab es nur den kleinen Hügel und das Karussell. Das genügte uns, denn wir sahen, was da sein könnte. Wir sahen die endlosen Möglichkeiten. Unser Spielplatz war kein gewöhnlicher Spielplatz, weil man nicht einfach so spielen konnte. Zuerst spielten wir nicht, wir lernten, Dinge zu sehen, die oft nur Kindern vorbehalten sind. Dinge, die nur für uns existierten. Und so lehrte uns die Freude das Spiel.

Wer ein Einhorn erkennt, muss es zähmen, um es zu halten. Wem ein Zauberstab in die Hand fällt, muss ihn schwenken und magische Worte murmeln. Ein Stein ist nicht einfach ein Stein, sondern das Ei eines Drachen, das beschützt werden muss. Das Mädchen und ich waren auf magische Weise miteinander verbunden, da wir gemeinsam alles verwandeln konnten. Wir waren Feen.

„Jetzt haben wir unseren ersten Blumenkristall“, sagte sie, nachdem sie aus Stängeln des Spitzwegerichs eine steinähnliche Formation geschaffen und Gänseblümchen hineingesteckt hatte.

Tatsächlich war der Spitzwegerich unsere Pflanze, bezaubernd und betörend auf ihre eigene Art. Man untersuche das Wort „Wegerich“, das aus den althochdeutschen Morphemen „wega“, für „Weg“, und „rih“, für „Reich“, besteht. Als „König des Weges“ passte er hervorragend in unser Reich, zumal er in unserem Burggraben wuchs. Er war König und gleichzeitig Diener und Wächter. Wächter über unsere Träume.

„Der sieht schön aus. Ich will auch einen Kristall machen“, sagte ich zu dem Mädchen.

Sie lächelte. „Das geht ganz leicht. Ich zeige es dir nochmal.“

Und wir saßen eine Weile im hohen Sommergras. Die laue Abendluft umhüllte meine Schultern und spielte mit meinem langen, ebenholzschwarzen Haar. Der Wind war unser Bruder.

Ich schaute dem Mädchen zu, wie es mit geschickten Fingern flocht. Dann machte ich es ihr nach und hatte es bald hinbekommen. Wir trugen unsere Kristalle in unsere Burg, die auf dem Hügel stand, die wir aus unseren gemeinsamen Träumen geformt hatten. Dort sollten sie für immer für uns verwahrt werden und mit dem Schlüssel hätten wir ewigen Zutritt. Vertrauen.

Die Zugbrücke bestand aus der Hoffnung, dass wir Freunde bleiben würden. Die Kristalle waren wertvoller als jedes Gold der Welt, weil sie durch uns entstanden waren. Durch das, was uns verband.

Wegerich.

Fantasie.

Du und ich.

Vertrauen.

Flehen.

Gib mir ein Morgen, das heute schon blüht.

Und die Kristalle blühten.

© Eva-Maria Wagner 2021-04-06

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