30. Oktober

Michelle Berger

von Michelle Berger

Story

Anfang Oktober erreichte mich ein Brief von Tante Berta. Einen Brief schrieb sie, da ich ihre Anrufe in den letzten Wochen vollkommen ignoriert habe.Ich hatte einfach keinen Nerv dazu, mit ihr zu sprechen. Ich dachte: Ja, sie ist vielleicht meine Tante und auch die einzige Verbleibende aus meiner Familie, aber das zwingt mich nicht dazu, den Kontakt mit ihr zu halten, wenn eben dieser nicht gut für mich ist. Ich hatte mir schließlich vorgenommen, dieses Jahr als Chance zu sehen. Als letzte Chance. Und bei eben dieser wollte ich mich nicht mit dem ungesunden Weltbild meiner Tante beschäftigen. In ihrem Brief schrieb sie lediglich: “Ich habe mich falsch verhalten. Es tut mir leid. Komm doch am Sonntag zum Kaffee trinken und Kuchen essen.“

Mein erster Plan war, den Brief gänzlich zu ignorieren. Doch nachdem Marvin ihn im Müll gefunden hatte, überredete er mich dazu, noch einmal das Gespräch mit ihr zu suchen. Er gab ein Stückweit sich selbst die Schuld für den Streit zwischen mir und meiner Tante. Dabei ahnte er nicht, dass das Treffen zwischen den beiden damals nur die Kirsche auf der Torte gewesen ist. Dennoch ließ ich mich zu einem Gespräch überreden und stand am darauffolgenden Sonntag vor Tante Bertas Haustür. Sie strahlte bis über beide Ohren, als sie mich sah. Schließlich hatte sie ohne mich ebenso wenig Familie wie ich ohne sie.

Wir aßen schweigend unseren Kuchen, während sie mich von unserem Urlaub erzählen ließ. Anschließend forderte sie mich dazu auf, ihr mitzuteilen, weshalb genau sie sich beim Treffen mit Marvin falsch verhalten hatte. Kurz hatte ich die Intention aufzustehen und zu gehen, wenn sie ihr eigentliches Fehlverhalten nicht einmal selbst bemerkte, doch es bestand ja noch immer die Chance auf Einsicht.

“Zum einen war es absolut unangepasst, ihn zu fragen, wo er herkommt, weil er dunkle Haut hat, das ist unhöflich und macht man einfach nicht. Du hast ihn als ungepflegt bezeichnet, weil er lange Haare trägt und als weniger männlich dargestellt auf Grund seiner engen Hose“, antwortete ich ihr. Daraufhin lachte sie übertrieben.

“Ihr jungen Leute!”, lachte sie, “Heutzutage darf man aber auch gar nichts mehr sagen! Alles wird einem auf die Goldwaage gelegt!” Anschließend bezeichnete sie als “Halben *N*-Wort” und sagte, ich solle mir einen richtigen Mann suchen. Dann, so ihrer Ansicht nach, würde ich auch meine Meinung zu Ehe und Kindern noch ändern. Obwohl mir bewusst war, dass es keinen Zweck hatte, wies ich sie auf ihre falsche Wortwahl hin und erklärte ihr den Begriff der toxischen Männlichkeit. Darauf sagte sie lediglich:“ Ich habe das *N*-Wort immer benutzt und werde es auch weiterhin tun, ich bin alt. Früher war das noch normal.“

Aber dein Alter ist keine Ausrede, Tante Berta. Egal wie alt, egal woher, egal welche Nationalität, welche Bräuche, welche Kulturen. Man kann immer lernen. Man kann sein Verhalten ändern und im Idealfall sogar seine Denkweise.

© Michelle Berger 2022-06-13