von Emmi
22.00 Uhr: Die Corona-Auffrischungsimpfung ist 13 Stunden her, keinerlei Reaktion. Erleichterung macht sich breit, schließlich war ich nach meinen ersten zwei Impfungen schon auf einiges gefasst. Ab jetzt geht es bergauf, ich spüre die Vorfreude auf einen neuen, aktiven Tag, nachdem ich heute die ganze Zeit gebangt habe. Endlich habe ich einmal Glück, endlich bin nicht ICH die mit den Reaktionen! Ich werde jetzt schlafen gehen. Es gibt doch noch Gerechtigkeit auf dieser Welt!
22:30 Uhr: Es gibt keine Gerechtigkeit. 38 Grad Fieber und Schüttelfrost. Danke, Pfizer.
23:30 Uhr: Ich habe Angst vor zwei Dingen: Hohes Fieber und hoher Puls. Was ich habe: Hohes Fieber und hoher Puls. Das nennt man dann wohl praktische Traumabewältigung.
00:00 Uhr: Es ist keine Methode der Angstbewältigung, verschreckt und wartend in die Dunkelheit zu starren, nur, falls es irgendjemand ausprobieren wollte.
00:20 Uhr: Hirn wurde Ablenkung durch Netflix angeboten. Hirn ist nicht interessiert und produziert weiter Angstzustände. Immer noch 38 Grad Fieber, ab 38,5 gibt es Mexalen. Vielleicht hilft ein Anruf. Die beste Freundin muss herhalten.
00:40 Uhr: Die beste Freundin ist sowieso immer wach. Ich habe noch nie verstanden, wie Erwerbstätigkeit bei ihr möglich ist. Sie widmet sich passioniert der Ablenkung und liest mir den Wikipedia-Eintrag zu Anti-Masturbationsinitiativen des 19.Jahrhunderts vor. Danke, Bio-Studium, danke Wikipedia. Ich bin leider kognitiv und physisch nicht mehr in der Lage, Widerstand zu leisten.
00:45 Uhr: Die Katze beginnt unter dem Bett zu schnarchen. Ab wann ist eine Situation ein Notfall und kann der Rettung gemeldet werden? Messen wir zur Ablenkung von der Ablenkung doch mal wieder Fieber.
00:55 Uhr: Meine Körpertemperatur hat in einer halben Stunde mehr Bewegung an den Tag gelegt als ich in den letzten zwei Jahren – 39,5 Grad. Ups. Schnell ein Mexalen.
01:00 Uhr: Die Freundin ist müde. Wäre ich auch nach der Lektüre. Lange stehen ist nicht mehr, der Kreislauf dürfte sich unbemerkt verabschiedet haben. Der Glückliche. Muss ich also den Vater bitten, mir Tee zu machen.
01:00 Uhr: Fünf Minuten Gehzeit für eine Strecke von einem Zimmer zum anderen. Ich rede mir ein, ich wäre tapfer in Anbetracht der Situation. Meine innere Stimme meckert, viel fitter wäre ich auch im Normalzustand nicht. Ignoriere die innere Stimme und klopfe an die Schlafzimmertür meines Vaters.
01:05 Uhr: Mein Vater braucht eine Schlafmaske zur Atemregulierung. Die habe ich jetzt zum ersten Mal gesehen. Wenigstens brauchen wir zu Halloween jetzt keine ausgehöhlten Kürbisse mehr. Jackpot.
00:30 Uhr: Der Tee ist da. In mir kämpft das Paracetamol, leider nur mit begrenztem Erfolg.
00:45 Uhr: Die herannahende Müdigkeit verspricht Erleichterung. Vor dem Eindösen denke ich mir: Es könnte schlimmer sein. Und hoffe, dass ich in meinen Fieberträumen nicht von maskentragenden Katzen verfolgt werde, die Wikipedia-Artikel rezitieren.
© Emmi 2021-11-05