4 Altes Moor und Wellen

Christina Maria Fischer

von Christina Maria Fischer

Story

Ich saß damals auf dem Lesesessel bei der alten Else und atmete den Polstergeruch ein. In meinem Mund sammelte sich der Geschmack von alter Wolle, Staub und Kellermuffigkeit. Es hatte sich so eingeschliffen, dass ich nach den Einkäufen immer noch ein bisschen blieb. Manchmal las ich ihr etwas aus ihren alten Büchern vor. Oder wir redeten.

An diesem Tag hatte ich gerade “Madame Bovary” angefangen. Das Buch knackte wie ein alter Rücken, wenn man es aufschlug und die Seiten hinterließen Papierpuder auf den Fingern. Alles, was sich hier auflöste, tanzte als Staub im Raum und setzte sich einem in die Lunge. Wenn man ging, hatte man immer winzige Bruchstücke von alten Geschichten in der Brust.

Ich mochte die alte Else inzwischen gern. Sie lag auf ihrer Chaiselongue und die Federn der Matratze quietschten unter ihr. Ich stellte mir immer vor, dass die grauen Locken auf ihrem Kopf dasselbe Geräusch machen würden, wenn man draufdrückte. Die schrumpeligen Hände hatte sie auf ihrem weichen Großmutterbauch gefaltet. Und wenn sie beim Vorlesen die Augen schloss, musste ich daran denken, dass sie – so ähnlich zumindest – bald in einem Sarg liegen würde.

Bei der alten Else saß der Tod in den Zimmerecken. Ich hatte bei ihr immer das Gefühl, wie im Zeitraffer zu altern, je mehr der Geruch des krümeligen Schaumstoffs unter mir in meinen Mund kroch. So war es, wenn Mooren einen verdaute, dachte ich dann. Es passierte inmitten einer Großmuttergemütlichkeit. Unter dem Duft von längst gegessenen Hefekuchen, waberte schon das Erdige. Das alte Moor.

Dass das viele abschreckte, konnte ich verstehen. Aber es war auch etwas Friedliches dabei. Bei der alten Else gab es nichts mehr zu tun. Ich war 19 Jahre alt und ständig warf mich die Welt in die Luft, damit ich irgendwohin flog. Bei der alten Else aber zog es einen in Richtung Boden. Und ich wollte damals unbedingt gezogen und gehalten werden. Ich wollte spüren, wo ich aufhörte.

An diesem Madame-Bovary-Nachmittag klopfte Beate an die Fensterscheibe. Da hatten wir schon so lange in unseren jeweiligen Positionen verharrt, die alte Else liegend und ich lesend, dass es sich anfühlte, als wären wir in eine getrocknete Schicht Schlamm eingebacken worden. Es störte mich, aus dieser Form auszubrechen und das Fenster zu öffnen. Von draußen flutete der Tag ins Haus. Jemand hatte am Himmel den Reißverschluss aufgezogen. Ich hatte keine Lust zu sehen, was darunter war.

Beate war aufgebracht. Sie hielt mir ihr Smartphone ins Gesicht wie einen Durchsuchungsbefehl. Auf dem Display waren riesige rote Buchstaben und Fingerabdrücke. Es sei längst in der Luft, rief Beate und ihre Stimme schlug dabei Purzelbäume. Die Wellen seien in der Luft und die Vögel hätten das gespürt. Und ich bin jetzt auch aufgewacht, krähte sie. Das Aufgewachtsein plärrte aus ihrem Gesicht. Sie redete noch eine ganze Weile und blinzelte kein einziges Mal.

© Christina Maria Fischer 2022-03-26

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