Das erste Bild zeigte einen prachtvollen Sternenhimmel. Die Bildunterschrift lautete: âSterne gucken in Alexandria, 390 n. Chr.â Ich schrieb den Kommentar âVoll schön!â unter das Bild, weil ich neugierig war, was dann passieren wĂŒrde. Hypatia antwortete wenige Sekunden spĂ€ter: âDie astronomische Interpretation folgt in meinem Live! Vorher muss ich aber noch etwas berechnen ⊠die Schönheit der Mathematik ist soo faszinierend!â
Hilfe, an wen war ich denn da geraten? âDas hĂ€ttest du mir vor dem Mathe-Abi sagen mĂŒssenâ, schrieb ich.
âJa, ich war eine sehr beliebte Lehrerin. Ich habe die breite Ăffentlichkeit mit meinen VortrĂ€gen auf dem Marktplatz gelehrt. AuĂerdem habe ich noch einige Studenten unterrichtet, besonders Begabte durften sogar meine Geheimlehren erfahren.â âWow – und das als Frau in der Antike?â, wunderte ich mich.
âMein Student Synesios von Kyrene war sogar so begeistert von meinem Unterricht, dass er mir immer neue SchĂŒler vorbeigeschickt hat. Ihre Religion war mir egal. Ich habe Heiden, Christen und Juden unterrichtet. Hauptsache sie hatten Interesse an der Wissenschaft.â
âWar das damals ein Problem?â
âFĂŒr mich nicht, fĂŒr viele meiner Zeitgenossen leider schon. Wahnsinnige religiöse Konflikte gab es damals! Aber das war nicht mein einziges Problem.â âWas noch?â
„LĂ€stige Verehrer und Stalker. Hier ein Lifehack: Spiel ihm stundenlang etwas Eintöniges auf einem Musikinstrument vor. Hilft das nicht, zeig ihm ein rotes Tuch. Mit deinem Menstruationsblut.â
âIgitt! Schreib bitte vorher eine Triggerwarnung, das ist doch echt cringe âŠâ
âWieso denn? Das ist doch etwas völlig NatĂŒrliches. Da begehren sie die Lust und die körperliche Schönheit, aber ohne sich fĂŒr den dazugehörigen Geist und den Intellekt zu interessieren. Doch wenn sie dann wirklich damit konfrontiert werden, was alles zum weiblichen Körper gehört, sind der ganze Zauber und die Leidenschaft oft schnell vorbei. Der lĂ€stige Verehrer jedenfalls kam endlich zur Vernunft und lieĂ mich in Ruhe.“ âUnd die lieĂen dich damals frei herumlaufen?â
âIch hatte sogar Kontakte zur Regierung und setzte mich fĂŒr politische Angelegenheiten und das Gemeinwohl ein. Ich wollte die theoretische mit der praktischen Philosophie verbinden. Als einer meiner UnterstĂŒtzer starb und sein Neffe an die Macht wollte, entstanden verheerende GerĂŒchte ĂŒber meine Rolle als politische Beraterin. Die Gewalt eskalierte und ich wurde von einem Mob wĂŒtender Mönche brutal ermordet.â
âWieso?!â âVielleicht war es ein politischer Auftragsmord, vielleicht die gewalttĂ€tige Stimmung jener Zeit, vielleicht auch der religiöse Konflikt. Das ist bis heute nicht geklĂ€rt. Wer sich in der Ăffentlichkeit fĂŒr Wahrheit und Gerechtigkeit einsetzt, lebt eben gefĂ€hrlich. Heute wie damals. Aber wichtig ist, was ich zu Lebzeiten geschafft habe. Ich war eine Universalgelehrte, die ihr Wissen an viele Menschen weitergegeben hat. Und sieh, ich bin noch immer nicht vergessen.â
© Anna Theresa Schreiber 2022-04-12