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Inga

von Inga

Story

Die letzten Tage verliefen ereignislos. Es ist ein bisschen peinlich, aber ich glaube, Routinen tun mir gut.

Heute Nacht habe ich geträumt, dass Milad mich mit einer sehr großen Frau betrogen hat, und irgendwas mit Schildkröten, die man umsonst im Freibad abholen durfte. Um mich aufzumuntern, kaufe ich mir eine Dose Cola Light zum Frühstück und mache einen Spaziergang zum türkischen Supermarkt.

Milad ist Künstler, er ist Iraner, er nimmt Antidepressiva, jeden Abend eine halbe Tablette, außer ganz selten, wenn er es vergisst. Er ist noch nicht lange mein Freund, und ich kann noch nicht komplett begreifen, was es heißt, Iraner zu sein, oder Antidepressiva zu nehmen, oder Iraner zu sein und Antidepressiva zu nehmen.

Gerade diese Intersektionen verschiedener Aspekte Milads Lebens sind für mich schwierig einzuschätzen — Iran und Antidepressiva, Iran und Kunst, Iran und Sex, Iran und Milad. Er will nicht, dass ich (oder irgendjemand) ihn auf seine Herkunft reduziere. Das finde ich sehr einleuchtend. Aber ich frage mich, wie man eine Person losgelöst von dem Rahmen verstehen soll, in dem sie aufgewachsen ist, wenn dieser sich so sehr vom eigenen unterscheidet. Milad kennt die Kultur, in der ich großgeworden bin, immer besser. Aber ich kenne seine nicht sehr gut. Er spricht eine Sprache, auf der alles schön klingt, aber ich verstehe fast nichts. Er sagt, er musste im Iran ständig Dinge heimlich tun.

Mein Exfreund kam aus einer deutschen Familie der oberen Mittelschicht, mit Kräuterbeet, vier Autos in der Einfahrt und einer prall gefüllten Speisekammer voller “Rewe Bio”-Siegel. Ihm wurde dort alles verboten: Cola trinken, rauchen, lange aufbleiben. Seine Mutter durchsuchte die Sofaritzen in seinem Zimmer nach Ecstasy und Gras, und sobald er von dort auszog, war endlich die ganze Welt sein Spielplatz. Er kiffte nur und schlief nie und lief jeden Tag barfuß durch Berlin. Er wollte freier sein, und freier, und freier, und hatte schließlich etliche Male Sex mit einer Fremden, während seine Freundin – ich – unwissend zuhause saß, Auberginenrisotto kochte und eine Hausarbeit über Spielhallen in Westdeutschland schrieb. Unsere Monogamie, oder wohl eher meine Monogamie, war eine weitere Fessel, von der es sich zu befreien galt.

Ich habe Angst, dass sich die schlimmen Dinge wiederholen. Dass der Iran Milads Mutter war, die ihm alles Mögliche verbat, und nun ist er hier, und es ist definitiv nicht einfach, und es ist lange nicht fair, aber zumindest was Sex angeht, ist er frei. Ich habe Angst, dass eines schönen Spätsommerabends die Luft warm ist und es nach Sonne auf warmer Haut riecht, dass die Luft elektrisiert vor guter Laune und einfach alle Sterne richtig stehen, dass die Freiheit ihn benebelt und er mich dann betrügt. Ich weiß, dass das nicht fair ist. Ich checke mein Handy.

Milad hat mir geschrieben, “I dreamt that you were so small that I lost you by accident :( But I found you in the grocery store.”

© Inga 2022-08-30