5 – Das Kitzeln

Daniel Selent

von Daniel Selent

Story

Einem animalischen Instinkt folgend lehnt sich Nina vor und schaut dem dunkelhaarigen Fremden direkt in die Augen. Dieser grinst noch breiter und beantwortet ihre Blicke mit einer leicht hochgezogenen Augenbraue. Nina fühlt den großen Raum um sich herum stiller werden, noch stiller als er ohnehin bereits ist. Sie kann auch die schockierten Blicke ihrer Kolleginnen auf sich ruhen fühlen, wie sie der Interaktion mundatmend folgen. Plötzlich ist Nina die Hauptattraktion und der Fremde hat ihr zu all der Aufmerksamkeit verholfen.

Nina beschließt, einem erneuten Impuls nachzugeben. So ist sie normalerweise nicht, so ist sie nie gewesen, doch sie erhebt sich einigermaßen gekonnt und flirtend von ihrem niedrigen Stuhl und beugt sich über den Tresen. Dabei schenkt sie dem fremden Mann ein durchaus hübsches Lächeln und legt den Kopf verspielt schief.

„Dann reden Sie mit mir“, sagt Nina und zuckt angesichts ihrer lauten Stimme zusammen. Mütter und Kinder drehen sich nach ihr um, Zeitungen rascheln erschrocken und Lydias polternde Schritte sind von oben zu hören.

Der Mann lächelt. „Ich muss zugeben“, sagt er, „dass ich nicht bis hierher vorausgedacht habe. Ich schätze, ich wollte einfach Hallo sagen und Sie zu einem Spaziergang einladen.“

Der Selbstbewusstseinsschub lässt nach wie ein Schuss Adrenalin, und Nina sinkt auf ihren Stuhl zurück. Jemand hat sie soeben nach einem Date gefragt! Sie! Nina fühlt sich wieder sehr verletzlich und vorgeführt. Macht der Fremde sich über sie lustig?

Der Mann macht einen vorsichtigen Schritt zurück. „Ich hätte Sie nicht so fragen dürfen. Ich meine, so bei der Arbeit. Das war unbeholfen und undurchdacht von mir. Vielleicht hätte ich mir im Bus Mut machen sollen.“

Im Bus? Nina kann sich überhaupt nicht an den Mann erinnern. Tatsächlich meint sie sich zu erinnern, dass der Bus fast leer gewesen und niemand zugestiegen war. Verwirrt schüttelt sie den Kopf.

„Nein, nein“, sagt Nina und bringt nun selbst endlich ein schiefes Lächeln hervor. „Ich würde gern mit Ihnen spazieren gehen. Ich habe um zehn eine kurze Pause.“

Die Miene des Fremden hellt sich deutlich auf. „Großartig“, sagt er und das Grinsen auf seinen Lippen wird wieder wild und wölfisch. „Dann hole ich Sie später ab. Ich heiße Lucas. Freut mich sehr.“

Sie schüttelt seine kühle Hand, die Hand, die ihre Schulter berührt hatte, ohne einen Juckreiz auszulösen. Eine Berührung, die nichts Unangenehmes oder Gezwungenes hatte. Jetzt weiß Nina auch, warum sie dem Fremden zugesagt hat.

Nina fühlt den Händedruck noch immer auf ihrem Körper, selbst als Lucas durch die automatischen Schiebetüren geschlendert ist. Und fährt sich versonnen über die Arme, denn das Kitzeln ist dieses Mal ausgeblieben.

© Daniel Selent 2024-04-04

Genres
Spannung & Horror
Stimmung
Dunkel