#5 Der Start

Jürgen Holzinger

von Jürgen Holzinger

Story

Doch es blieb nicht viel Zeit zum Nachdenken. Obwohl ich nicht besonders gut geschlafen hatte, stand ich doch voller Tatendrang auf und war gespannt, was der erste Therapie-Tag mit sich bringen würde. Nach der morgendlichen Hygiene machte ich mich auf zum Frühstück. Dieses fand ebenfalls im großen Speisesaal statt und wurde in der Zeit von sieben bis acht Uhr als Buffetform gereicht. Es gab Gebäck, Wurst, Käse, Aufstriche, Joghurt und Müsli – es fehlte somit an nichts. Ich versuchte, nicht allzu viel zu essen, da ich nicht wusste, was mich noch erwarten würde.

Auf dem Therapieplan, welchen ich immer am Vortag erhielt, standen folgende Therapien: „Acht Uhr Gymnastik-Amputierte im Turnsaal; Neun Uhr Krafttraining-Rolli im Kraftraum; Zehn Uhr Gangschulung-Amputierte beim Barren.“ Und um vierzehn Uhr wieder Gangschulung. Ich konnte mir zwar vorstellen, wie sich die einzelnen Therapien gestalten würden, doch die Anspannung stieg weiter. So machte ich mich nach dem Frühstück rechtzeitig auf, um zum Turnsaal zu gelangen. Mithilfe der zahlreichen Aufzüge, die sich im Gebäude befanden, fuhr ich einen Stock tiefer auf die Ebene „Null“. Am hintersten Ende des riesigen Komplexes befand sich der Turnsaal. Davor lag der Kraftraum, sowie der Barren.

Vor dem Turnsaal warteten schon einige Patienten und ich sah einseitig unterschenkelamputierte Menschen, zum Teil mit Prothesen und zum anderen Teil im Rollstuhl, sowie welche, bei denen ersichtlich keine Gliedmaßen fehlten, die aber im Rollstuhl saßen. Wie ich erst später erfuhr, waren dies Menschen mit „inkomplettem Querschnitt“. Das heißt, bei dieser Form der Querschnittlähmung wurde das Nervenband im Rückenmark nicht vollständig durchtrennt, sondern ein Teil des Bandes blieb erhalten. Diesen Menschen ist es möglich, die unteren Gliedmaßen „anzusteuern“ und, wenn auch sehr erschwert, einige Schritte zu gehen.

Ich begrüßte alle höflich und als ich mich vorstellte, kam gleich hinter mir unser Sportlehrer den Gang zum Turnsaal entlang. Er grüßte uns alle und als Neuankömmling gab er mir die Hand und sagte: „Hey, ich bin der David und du?“ Ich stellte mich ebenfalls vor und dann ging es auch schon los. Wir fuhren in den Turnsaal und David forderte mich auf, den Rollstuhl zu verlassen und mich auf den Boden zu setzen. „Ich, den Rollstuhl verlassen?“, fragte ich mich selbst. „Wie soll das gehen?“ Ich sagte David, dass ich das nicht alleine schaffen würde und so half er mir aus dem Rollstuhl.

Wir saßen alle im Kreis und jeder Patient bekam eine Turnmatte, auf der wir die Übungen durchführen sollten. Es waren Gymnastikübungen wie Dehnen, Strecken und Turnen dabei. Da ich noch sehr schwach war, konnte ich aber nicht alle Übungen mitmachen. Doch David war sehr hilfsbereit und half mir und den anderen in jeder Situation.

Er hatte auch immer einen sogenannten „Schmäh auf den Lippen“, sodass die Stunde sehr kurzweilig war. Ich verstand mich auf Anhieb sehr gut mit ihm und es stellte sich heraus, dass er ebenfalls aus dem Burgenland kam. Somit war das „Eis gebrochen“. Aber was er dann am Ende der Stunde von mir verlangen sollte, machte mich sprachlos …

© Jürgen Holzinger 2023-02-01

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