5. Die Brücke

Holly Geiß

von Holly Geiß

Story

Der Kellner hat uns vergessen.

Magdalena sitzt mit ihrer Mutter im Restaurant des Hotels und wartet auf ihr Abendessen. Die beiden haben sich fest vorgenommen in diesem Urlaub wenigstens fünf Postkarten zu schreiben. Jetzt haben sie Zeit. Manche Postkarten sind leicht geschrieben. Man muss nicht darüber nachdenken, was man schreibt. Es passiert einfach. Bei anderen ist das nicht so. Denn wenn man Postkarten mit ganzen Romanen erhält, kann man nicht einen Dreizeiler zurückschicken.

Der Kellner stellt die Teller unaufmerksam auf die Postkarten und rennt weiter. Zum Glück rennt der Geruch des Essens nicht mit ihm mit.

Am nächsten Morgen fahren sie mit der Fähre in die Stadt, um die Umgebung besser erkunden zu können als aus der Underground. Von Weitem erkennen sie bereits die Tower Bridge. Dort wollen sie aussteigen. Magdalena blinzelt in den Himmel, die Sonne blendet. In London. Einen Regenschirm hat sie eingepackt. Eine Sonnenbrille nicht.

Sie fahren unter fünf Brücken durch, jedes Mal eine kurze schattige Erleichterung. Dank dieser Überfahrt können sie sich einen guten Überblick über einige der wichtigsten Sehenswürdigkeiten verschaffen. Big Ben, London Eye, Tate Gallery. Sehr praktisch.

Die Tower Bridge kommt immer näher. Sie ist breiter als die anderen Brücken und wesentlich älter. Das Gemäuer thront majestätisch über der Themse. Der Schatten überflutet nun die Fähre. Magdalena hat das Gefühl in eine andere Zeit gerissen zu werden. Es wird immer dunkler. Ist die Sonne untergegangen? Vermutlich sind es nur die englischen Wolken.

Nun sind sie in der Mitte der Brücke angekommen. Magdalena sieht aber kein Ende. Die Brücke ist groß, aber sie ist kein Tunnel. Sie schaut sich suchend nach ihrer Mutter um, findet sie aber nicht. Am Pfeiler der Brücke sieht sie einen Lichtstrahl. Die Fähre steht jetzt fast still. Sie gerät in Panik. Sie möchte zum Licht, aber traut sich nicht in das tiefschwarze Wasser zu springen. Nun beginnt es in die Fähre zu strömen. Ihr bleibt nichts anderes übrig, als zu springen. Sie zieht ihren Rucksack enger.

Eine Hand greift sie an der Schulter.

„Komm, Magdalena, wir müssen aussteigen.“

© Holly Geiß 2022-08-19

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