5 Hauptsachen und Reinheit

Christina Maria Fischer

von Christina Maria Fischer

Story

Das Problem mit unsichtbaren Dingen ist, dass man sie behaupten kann. Man kann sagen, es gibt einen Gott. Man kann sagen, es gibt finstere Pläne irgendwo in anderen Köpfen. Man kann sagen, es gibt Wellen in der Luft. Und wenn man unsichtbare Dinge behauptet und diese Dinge sich in den Köpfen von genügend Menschen behauptet haben, dann werden sie am Ende zu Hauptsachen. Da kann man tun, was man will. Menschen brauchen Hauptsachen. Und wenn sie keine haben, machen sie sich welche.

Früher war Gott in Mooren eine so große Hauptsache, dass sie für ihn eine Kirche mitten ins Dorf gerammt haben. Seitdem ragt sie wie eine Nase aus dem Dorfsgesicht raus, sogar jetzt noch, wo Gott längst ausgezogen ist. Aber auch eine entweihte Kirche bleibt wohl eine, zumindest bleibt sie eine Möglichkeit. Andere Hauptsachen können dort jederzeit einziehen. Manchmal wollen Menschen Dinge in Stein hauen.

Nachdem Beate die unsichtbaren Wellen behauptet hatte, begann es in Mooren zu sickern. Hier und da konnte man beobachten, dass die Idee in einen Kopf durchgesickert war. Es schien so zu sein, wie wenn Regen im Boden zufällig auf einen Samen trifft. Frauen trugen Regenhauben, auch wenn es nicht regnete. Abends sah ich oft Bauer Franz, wie er vorm Kartoffelacker stand, die Hände in die Hüfte gestemmt, und von oben nach unten schaute. Man hatte bald die Smartphones im Verdacht. Diese kleinen Computer, die viel zu viel wussten. Die von unsichtbaren Wellen gespeist wurden. Das wussten sogar die Alten. Nur geheuer war es ihnen nicht.

Ich konnte zusehen, wie sich etwas in meinem Vater davonmachte. Auch das etwas Unsichtbares: die fadenscheinige Hoffnung auf Kontrolle. Ich sah, wie seine Augen schwammen. Wie sich wieder Furchen in seine Haut gruben. Sein Gesicht war ein Acker. Wenn er so war, konnte man nicht wissen, welche Saat darin aufgehen würde.

Eines Abends schmiss er sein Handy in den Salztopf, holte den Putzeimer aus der Abstellkammer und warf einen Lappen nach mir. Wir machen hier jetzt endgültig sauber, sagte er. Das “Endgültig” blieb mir wie ein Splitter in der Haut stecken. Er hatte wieder Risse und blutige Stellen auf den Händen. Wenn Reinheit zu einer Hauptsache wird, reißt sie Wunden.

Wir putzten unsere Wohnung bis spät in die Nacht. Ich sah, wie mein Vater immer wieder den Salztopf beobachtete. Als säße darin eine Schlange, die jeden Moment ihren Kopf herausstrecken könnte. Da war eine neue Art von Verschmutzung in seinem Leben. Eine, die man nicht sehen konnte. “Leg‘ dein Handy heute Nacht auch ins Salz”, sagte mein Vater dann. Er stand wie niedergeknüppelt im Türrahmen, eine neue, zentnerschwere Hauptsache im Genick. “Morgen sehen wir weiter.” Sein Kopf kippte kurz in Richtung eines Zettels am Kühlschrank. Eine Einladung zu einer Informationsveranstaltung in der alten Kirche. Thema: Säuberung in Mooren – für die Rückkehr der Vögel. Ich nickte, damit er sich daran festhalten konnte.

In dieser Nacht ließ sich ein Storch auf dem Kirchturm nieder.

© Christina Maria Fischer 2022-03-29

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