von Weudl
Ich betrete die Klasse. Deutschunterricht in der 3c. Heute tragen wir Balladen vor. Goethe, Schiller und Co. direkt und Live zu Gast bei uns im Klassenzimmer. K. spricht gerade. Einige Schüler hören ihr zu. Einige schließen die Augen und schlafen. Ich lehne lässig gegen den Kasten und versuche ihren Worten zu folgen. Ihre Stimme erhellt den Raum und ich fühle mich direkt am schillerischen Balkone, gleich neben König Franz sitzend. Meine Gedanken driften ab, ich werde Teil der Szene, werde Teil des Hörspiels. Der König winkt und der Zwinger öffnet sich. Mein Mund steht offen und ich lausche dem Gähnen des Löwens. Doch das Geflüster von M. und J. lenkt mich zu sehr ab. Es tut mir für K. leid, doch ich muss sie unterbrechen und den beiden Störenfrieden die Meinung geigen. Kurz bevor der Tiger den Löwengarten betritt, stupse ich M. an und deute ihm würdevoll mit einem gestreckten Finger vor meinem Munde, dass er doch bitte so höflich sein solle und das Gespräch auf die Pause verschieben dürfe. Widerwillig verstummt seine Goschen und plötzlich brüllt der Tiger wie von Sinnen. Doch unmotiviert reckend und streckend schnarcht O. so laut, dass man denken könnte, er wäre gerade im Tigertraum. Unbedacht setzt K. die Ballade fort. Ein letztes Mal winkt König Franz und die Leoparden stürzen sich hinein. “Hätte ich M. und J. doch nur reden lassen”, denke ich mir als sie sich unter dem Tisch gegenseitig in den Schwitzkasten nehmen. Die Stimme, welche mich in ihren Bann gezogen hatte, gerät für einen Moment ins Stocken. Ich brülle wie der Leu und es wird still. Die beiden Streithähne setzen ihre Luxuskörper auf ihre dafür vorgesehenen Sitzplätze und ich winke K. freundlich zu. Sie fährt fort und ich stehe nun aufgebäumt, wie ein Ritter hinter den beiden Unruhestiftern. Kunigundes Stift rollt im Zeitlupentempo den Tisch hinab und fällt hinein in den Löwengarten. Mein strafender, böser Blick trifft ihr zartes Wesen und ohne lange zu zögern, hebt T. den Stift auf und reicht ihn triumphierend der jungen Dame. Ein Schmunzeln kommt über meine Lippen und ich freue mich über die ritterliche Tugend von T. “Es gibt sie also doch noch, die Gentleman von morgen”, denke ich mir.
…den Handschuh ins Gesicht“, höre ich K. sagen. Da klatscht es auf einmal ziemlich laut und J. hat M. eine klassische Gnackwatschn gegeben. Bevor es zur Retourwatschn kommt, applaudiere ich so laut hinter den Beiden, dass sie gar nicht anders können, als mitzumachen. Ich bedanke mich bei K. für ihre tolle Performance und bespreche in Abwesenheit meiner Gedanken das Ende der Ballade mit den Kindern.
Wie oft redet man mit den Kids in der Klasse über Gesprächsregeln, wie oft hört man von ihnen, dass sie gerne respektvoll behandelt werden möchten und wie oft sind sie leider selbst nicht sonderlich respektvoll. Da beißen sich wohl der Löwe, der Tiger und die zwei Leoparden in ihre Schwänze und gehen zurück in des Königs Zwinger.
© Weudl 2021-08-25