„Der Schrei war ein Trick, um uns aus dem Raum zu locken“, folgerte Delphine, âin der Zwischenzeit wurden die Papiere gestohlen. Wie Ă€rgerlich! Diese handschriftlichen Aufzeichnungen sind sehr wertvoll und vor allem aufschlussreich.â
Nun kam Sven zu mir und sagte mit gesenkter Stimme: âDie Profs irren sich. Ich bin doch nicht mit nach drauĂen gekommen, weil ich mein Handy hier vergessen hatte. Das ist mir schon beim Loslaufen aufgefallen. Also bin ich gleich auf dem Flur wieder umgedreht und hier geblieben. Niemand ist in der Zeit hereingekommen. Und ich habe definitiv niemanden an Heidesands Sachen oder mit irgendwelchen BlĂ€ttern in der Hand gesehen. Der Diebstahl muss schon vorher passiert sein.â
Ich nickte und ĂŒberlegte. Sven war ein ehrlicher Mensch und nicht so ein Typ, der heimlich Wittgenstein-Dokumente stehlen wĂŒrde. Also war ich bereit, ihm das zu glauben. Das wĂŒrde ich dem Phantom, das ein exmatrikulierter Plagiator war, schon eher zutrauen. Wenn ihm zu langweilig wurde, machte er vielleicht solche Sachen.
Aber der TĂ€ter musste jemand sein, der von den SchriftstĂŒcken wusste. Auch ich hatte gerade eben erst davon erfahren. Das Phantom war inzwischen nicht mehr so gut ĂŒber die universitĂ€ts-internen Neuigkeiten informiert.
Also war es ein*e Tutor*in gewesen? Oder vielleicht ein*e Dozent*in, jemand von den Profs? Professor Heidesand womöglich? Vielleicht hatte er sich die Papiere selbst gestohlen und die Sache mit dem Schrei als Ablenkungsmanöver genutzt. Das wĂŒrde zu ihm passen.
Es war sicher wĂ€hrend der Diskussionsrunde passiert, als alle ĂŒber den Schrei und die damit zusammenhĂ€ngenden Moralkonzeptionen diskutiert hatten. Da achtete doch niemand darauf, ob jemand etwas aus seiner Tasche nahm und es irgendwo versteckte.
Wobei – warum alles so kompliziert machen? Aus der Tasche genommen? Wozu eigentlich?
Ich fasste in Sekundenschnelle einen Plan und hoffte instĂ€ndig, dass dieser mich nicht genauso fĂŒr alle Zeiten aus dem offiziellen Leben an der Uni verbannen wĂŒrde wie das arme Phantom.
Wollte ich etwa mit dieser bescheuerten Aktion Elenore beeindrucken? Beweisen, dass ich insgeheim doch der Meisterdetektiv der Uni Konstanz war? Kein Plan.
Jedenfalls schnappte ich mir eine Tasse GlĂŒhwein, lief zum Stehtisch der Profs und tat so, als wĂŒrde ich stolpern. Der GlĂŒhwein ergoss sich ĂŒber Heidesands Ledertasche und ich entschuldigte mich vielmals.
Ich schnappte mir eine Serviette, und begann unter dem heftigen Protest Heidesands, seine Tasche zu putzen, wobei ich (natĂŒrlich rein zufĂ€llig) den kompletten Inhalt auf dem Boden verteilte.
Mein spontanes Vorgehen kam mir in diesem Moment noch ziemlich genial vor. Allerdings hatte ich einen wirklich entscheidenden Faktor nicht bedacht âŠ
© Anna Theresa Schreiber 2022-12-21