* 6 * Eine Villa in Cortona

Heinz-Dieter Brandt

von Heinz-Dieter Brandt

Story

Paul Klawunke streckte sich, schielte zum Wasserkocher und überlegte, wann es wohl Zeit wäre, sich einen Kaffee zu kochen, oder ob er heute mit einem Wkiskey-Tea on the Rock’s beginnen sollte. Die Nacht war lang gewesen, er hatte stundenlang in der Kühle gesessen, eine große Rotte Wildschweine beobachtet, die in der Nähe wühlten, und jetzt fühlte er sich leicht erkältet. Natürlich hatte er einen Sack mit Kastanien und Äpfeln, zum Teil vergammelte Ware aus dem Supermarkt, abgeladen und damit die Rotte angelockt. Aber vielleicht doch lieber Kaffee. Er schwang sich aus dem Bett und wankte zum Gaskocher. Elf Uhr morgens war einfach zu früh. Er öffnete die Tür, um Licht und Herbstluft hereinzulassen, als es plötzlich dunkel wurde. Paul zuckte zusammen. Ein elegant gekleideter Mann mittleren Alters sah ihn mit einem ernsten, aber nicht unfreundlichen Gesichtsausdruck an, der an die Botschaft „Fürchtet euch nicht!“ erinnerte. „Jetzt bin ich aufgeflogen“, waren Pauls erste Gedanken. Etwas zurückhaltend bat er den Fremden herein, bot ihm einen schlechten Kaffee und einen noch schlechteren Platz an und wartete. Neugierig und interessiert sah sich der Fremde um, und Paul entging nicht, dass er wiederholt die Nase rümpfte. Er hatte sich die Behausung anders vorgestellt und zweifelte nun sogar daran, ob sein Vorhaben hier überhaupt Sinn machen würde. Schließlich stellte er sich als Giuseppe di Stefano vor und begann zu reden, und je länger er sprach, desto interessierter hörte Paul zu.

Drei Jahrzehnte später …

Paul Klawunke stand an diesem Morgen früher auf als sonst. Die Frühlingssonne schien durch die Fenster seiner wild bewachsenen Waldhütte. Es würde ein schöner Tag werden, ganz nach seinem Geschmack. Und sein letzter Tag hier. Und auch sein letzter Tag als Paul Klawunke. Bedächtig zog er sich an. Bevor er die Gegend und seinen Wald verließ, wollte er noch einmal seinen Bruchfelderweg ablaufen. Hier kannte er jeden Strauch, jeden Baum, längst hatte das Dickicht den ganzen Weg bis zu seiner Hütte überwuchert, aber noch konnte er sich frei bewegen, schließlich hatte er sich bis zum Ende des Weges immer einen kleinen Pfad offen gehalten. Seltsam, dass ihn in all den Jahren niemand entdeckt hatte. Aber die Angst vor den Bruchfeldern und einem möglichen Versinken hatte Waldspaziergänger, Pilzsucher und Naturfreunde dauerhaft ferngehalten.

Langsam ging er zum Ende des Bruchfelderweges. Morgen würde er seine Villa in der Toskana beziehen, mit neuem Pass als Ricardo di Albicci. Vor zwei Jahren hatte er sie für einen angenehmen Lebensabend ausgesucht und umgebaut. Die mit einem großen Swimmingpool ausgestattete Villa oberhalb der Stadt Cortona bot einen spektakulären Blick auf das umliegende Tal und die Trasimenischen See. Ein Blick, der ihm eine neue Sicht der Dinge eröffnen würde.

Fast wehmütig betrachtete er die hohen Bäume, die unzähligen kleinen Rasenstücke und die eingefallenen Hügel. Er wusste nicht mehr, wie viele es waren. Für jeden Hügel hatte er eine beträchtliche Summe Geld bekommen, und unter jedem Hügel verbarg sich eine Geschichte, die er nur selten kannte. Aber das ging ihn nichts an. Er ging zurück, vorbei an Enricos Hügel, mit dem alles begonnen hatte, und verließ das Gräberfeld, das er in vielen Jahrzehnten für die kalabrische Mafia angelegt hatte.

© Heinz-Dieter Brandt 2025-01-25

Genres
Spannung & Horror
Stimmung
Dunkel, Angespannt